Dienstag, 15. Januar 2013

Der Lotse geht von Bord! Und die Ratten folgen … auf den Thron - Deja- vu?


Der Lotse geht von Bord! Und die Ratten folgen … auf den Thron - Deja- vu?



Der Diktator war inzwischen vom Dach des Zentralkomitees aus mit einem Hubschrauber geflohen. Nun jagte er wie ein Verfolgter durch das eigene Vaterland - und keiner wollte ihm Zuflucht gewähren. Keiner der vielen Speichellecker, die zwei Jahrzehnte von seiner Gunst profitiert hatten, wollte den Flüchtling aufnehmen. Nun, wo sich das Blatt endgültig zu wenden begann, lockte es keinen der einstigen Vasallen, den über alles geliebten Sohn des Volkes aufnehmen zu wollen. Keiner wollte dem Schöpfer der Gesellschaft des Lichts Obdach bieten. Und keiner wollte den Titan der Titanen beherbergen und beschützen!

Nicolae Ceauşescu, noch vor Stunden ein Gigant und Übermensch, war plötzlich ein Strauchelnder und Fallender, nur noch ein Pygmäe, ja ein Homunkulus gar. Nutzlos geworden, war die lästige Drohne auf einmal aus dem Bienenstock geschubst worden - sie war überflüssig und somit reif für das Schafott! Fraß die Revolution ihre Kinder erneut auf - wie die Ungeheuer im Mythos und wie Stalin und Marat, Danton, Robespierre in der historischen Wirklichkeit?

Nur von der rankünehaften wie intriganten Elena begleitet, streunte Ceauşescu durch seine walachische Heimat wie ein Aussätziger, wie einer jener vielen Vagabunden im Land, die er mit seinen Dekreten in die Gefängnisse verbannt hatte, nun selbst vogelfrei wie ein Schwerverbrecher im Wilden Westen. Der Steckbrief fehlte noch an den Zäunen. Doch Ceauşescu war längst zum Abschuss frei gegeben, von seinen Ziehsöhnen und einstigen Gegnern, die nun bereit waren, seine Stellung einzunehmen. Der Despot hatte die Zeichen der Zeit verkannt, nicht anderes als Honecker und Schivkov.

Aus der kurzen Flucht wurde ein unwürdiges, demütigendes Trauerspiel, das an byzantinische Grausamkeiten erinnerte. Sein Volk, dem er so manches unfreiwillige Lichtjahr beschert hatte, lies ihn plötzlich fallen. Das Genie der Karpaten, der Fixstern, vor dem die Sonne erblasste, stürzte ikarusgleich wie ein verglühender Komet in ein schwarzes Loch.

Etwas von letzter Verlassenheit, ein Gefühl, das mancher politische Dissident im Land hatte in einsamer Zelle hatte erleben dürfen, wurde nun auch ihm zuteil. In einer düsteren Kaserne nahe der alten Herrscherresidenz Tîrgovişte, wo Vlad der Pfähler 10. 000 Türken auf grausamste Weise auf Eichenpfählen hatte aufspießen lassen, erlebte der Held der Arbeiterklasse Nicolae Ceauşescu sein Golgotha. Der Zufall hätte keinen schrecklicheren Todesort auswählen können! Der Horror der Geschichte und mit ihm etwas von dem Terror, den er selbst gesät hatte, holte ihn jetzt ein und wurde ihm zum Schicksal. An jener Schädelstätte, wo Wüterich Vlad einst strafend spießte und siedete, wurde das Diktatorenehepaar von einstigen Untertanen festgesetzt. Wie schon mancher Bojar, Fürst und gekröntes Haupt vor ihnen wurden sie dann von denselben Vasallen vor ein Schnellgericht gestellt, abgeurteilt wie deutsche Widerstandskämpfer, bald darauf einem Exekutionskommando überantwortet - und mehr provisorisch als standesrechtlich hingerichtet. Tragische Entwicklungen rollten ab, fern der abendländischen Kultur - byzantinische Grausamkeiten am Rande Europas!

Das alles verfolgte ich aus der Ferne mit Grausen und Verwunderung, ohne zu begreifen, dass die gesamte freie Welt halb ohnmächtig, ja gelähmt zusah, ohne einzuschreiten. Da ich den Menschen Ceauşescu nie gehasst hatte, kam diesmal sogar Mitleid auf und Abscheu vor der Praxis, staatlich sanktionierte Lynchjustiz zu üben, nur aus Gründen des politischen Kalküls und der Staatsräson!

Staatsanwalt und Henker waren rasch gefunden. Man hätte auch unseren Richter Niculai Busuioc herbei zitieren können. Er hätte als gehorsamer Diener seiner Herren die zugewiesene Aufgabe vorbildlich erledigt - aus Liebe zur Pflicht und zur Wahrheit.

Doch andere waren näher am übernationalen Handlungsgeschehen und schneller. Hier konnten sie sich die Sporen verdienen. Einmalige Chancen winkten. Einen Diktator mit zur Strecke gebracht zu haben, war das keine Empfehlung für die segensreiche Zukunft?





Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur


Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe


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