Dienstag, 15. Januar 2013

Die Proklamation von Temeschburg : Paradigma demokratischer Neuorientierung -


Die Proklamation von Temeschburg : Paradigma demokratischer Neuorientierung -

verfasst von freien Bürgern einer freien Stadt



Als ich Temeschburg im Herbst 1979 für nunmehr drei Jahrzehnte verließ, war die Alltagswelt noch weitgehend in Ordnung. So erschien sie mir jedenfalls noch in der knappen Zeitspanne nach der Entlassung aus dem Gefängnis bis zur Ausreise. Die Menschen hatten immerhin noch genug zu essen.

Doch bereits zwei Jahre danach verfiel die ökonomische Struktur des Landes dramatisch. In dem einst wohlhabenden Temeschburg, im Eldorado vieler Rumänen aus dem Norden, sollen Menschen auf einer öffentlichen Kundgebung erstmals nach Brot gerufen haben. Statt der altvertrauten Parole Ceauşescu –PCR riefen die Darbenden plötzlich: Ceauşescu - Păine.

Jeder auch noch so gefürchtete Gewaltherrscher im antiken Rom wusste, dass ein Ende seiner Macht bald bevorstand, wenn die Getreidespeicher leerer wurden. War kein Korn mehr vorhanden, dann versagten selbst die kurzweiligsten Spiele! Ceauşescu, ein Berufsrevolutionär mit bescheidener Bildung, wusste davon nichts. Statt sein Volk mit Brot zu versorgen und mit ausreichend Butter darauf, mutete er den Bürgern weiter zu, mit leeren Magen zu schuften und hungernd und verzichtend die vielfach entwickelte Gesellschaftder Zukunft aufzubauen - mit ihrem Homo novus, dem neuen Menschen des Sozialismus, der in der schon anbrechenden Gesellschaft des Lichts nur noch von Illusionen lebt!

War diese Haltung weniger zynisch als einst jene von Marie Antoinette? Jene verlor bekanntlich den Kopf! Aber auch davon hatte Ceauşescu wohl nichts gehört. Seine politische Instinktlosigkeit, die mehr und mehr alle Realitäten verkannte, musste zum Scheitern führen.

Nach den spontanen Kundgebungen mit dem Ruf nach Nahrung und existentieller Grundversorgung folgten bald weitere gezielte Protestaktionen mit ähnlichen Forderungen, Studentenproteste, Erhebungen, gewaltsame Bergarbeiterstreiks wie jene in Motru, und schließlich der Aufruhr in den Reihen der Arbeiter, die plötzlich Tausende mobilisieren konnten. Endpunkt der immer gewaltsameren Massenproteste war die Revolution von Temeschburg!

Es war das zentrale Ereignis, das letztendlich zum Sturz des Diktators führen sollte. Wohin ging die Reise nach 1989? Welchen Weg sollte die rumänische Gesellschaft nach dem makabren Ende Ceauşescus, das von den neuen Machthabern um Iliescu schon aus Selbstschutzgründen rasch herbeigeführt worden war, beschreiten?

Das Neue musste eine radikale Abkehr vom Alten bedeuten, eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft von Anfang an - und keine langwierige Transformation, wie sie dann tatsächlich von Staatschef Iliescu sieben Jahre hindurch betrieben werden sollte.

Alle Grundsätze der künftigen Entwicklung Rumäniens zur Demokratie und in die europäische Integration wurden in der Erklärung von Temeschburg formuliert. Sie ist das Paradigma des Demokratisierungsprozesses des Landes und seiner Konversion von der kommunistischen Diktatur zu einer parlamentarisch-demokratischen Republik westlichen Zuschnitts.

Als ich im Frühling 1990 als ferner Beobachter der Entwicklungen merkte, dass die neuen Machthaber in Bukarest unter dem uns Temeschburgern sattsam vertrauten Iliescu das Rad der Demokratisierung wieder anhalten wollten, den Prozess des Umbruchs für ihre eigenen Zwecke zu nutzen gedachten und dabei die Ideen avantgardistischer Demokraten wieder in den Hintergrund gedrängt werden sollten, machte ich mich daran, die Intentionen der Temeschburger Visionäre zumindest in Deutschland bekannt zu machen.

Die Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung druckten meine Stellungnahme als Leserbrief in der Ausgabe vom 9. Mai 1990 ab. Dort schrieb ich folgendes: „Mitte März sendete der immer noch staatlich gelenkte Sender Radio Bukarest eine verstümmelte und abgeänderte Fassung der „Erklärung von Temeschburg“. Der authentische Text dieses inzwischen in den Westen gelangten Aufrufs gibt zu erkennen, weshalb manipuliert werden musste. Diese„Proklamation“, von unmittelbar an der Revolution beteiligten Schriftstellern, Journalisten und Studenten ausgearbeitet und von zahlreichen Bürgerverbänden gutgeheißen, richtet sich primär an die nationale Öffentlichkeit, interessiert, die ideellen Zielsetzungen der - noch nicht abgeschlossenen - Revolution programmatisch zu verkünden und Wege der politischen und ökonomischen Erneuerung zu konkretisieren. Einige Grundzüge dieses wichtigen Zeitdokuments das - wie kaum ein anderes - die politische Stimmungslage in Rumänien widerspiegelt, mögen die demokratische Gesinnung der stark bedrängten Opposition verdeutlichen.

Die Autoren, die sich nunmehr als freie Bürger einer freien Stadt verstehen, weisen in der Erklärung darauf hin, dass die Revolution von Temeschburg (Temeswar) nicht nur antidiktatorisch - also gegen Ceauşescu - sondern im Einklang mit den Aspirationen aller Völker Osteuropas genuin „ antikommunistisch“ ausgerichtet war. Sie wurde, wie weiter ausgeführt wird, von allen sozialen Volksschichten und von den dort lebenden ethnischen Minderheiten„Ungarn, Deutsche, Serben“) getragen. Die Idee eines „politischen Pluralismus“ stand von Anfang an im Vordergrund. „Wir sind überzeugt“, heißt es, „dass eine europäische Demokratie ohne starke Parteien nicht bestehen kann. Alle Parteien, außer den links- und den rechtsextremen, haben in Temeschburg eine Existenzberechtigung. Jede Form von Chauvinismus wird abgelehnt.

Dann erfolgt die moralische Abrechnung mit dem immer noch bestehenden Machtsystem. Die Kommunistische Partei Rumäniens habe sich durch den von ihr zu verantwortenden „Genozid“ selbst aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Deshalb könne sie unter keinen Umständen und auch in keiner Form der Wiedergeburt geduldet werden. Genauso konsequent werden auch die jetzigen Machthaber, deren späte Abtrünnigkeit nicht akzeptiert wird, als Führungskräfte abgelehnt. Kommunisten und Mitgliedern der „Securitate“ sollte innerhalb der nächsten drei Legislaturperioden jede politische Aktivität, vor allem aber das Anstreben des Präsidentenamtes, untersagt werden. Der künftige Präsident des Landes müsse vielmehr durch seine Persönlichkeit die Überwindung des Kommunismus symbolisieren.

Mehrere Abschnitte der Proklamation sind wirtschaftlichen Fragen gewidmet. Es wird darauf hingewiesen, dass die Revolution nicht materieller Natur war. Gleichzeitig warnen die Verfasser vor verfrühten Wohlstandserwartungen und einer daraus resultierenden wirtschaftlichen Instabilität. Das Anheben des allgemeinen Zivilisationsniveaus, etwa der Ausbau des Gesundheitswesens, sollte absolute Priorität genießen. Prinzipiell setzen die Autoren auf ökonomischen Pluralismus. Privatisierung, Dezentralisierung der Wirtschaft und Konvertierbarkeit der Währung sind weitere Schlagworte des Programms. Der Aufruf, alle Exil-Rumänen mögen in ihre Heimat zurückkehren, beschließt das Dokument.

Als gebürtiger Temeschburger und als ehemaliger Dissident sah ich es als meine Pflicht an, sowohl die Intentionen der Proklamation, die in ihrem idealistischen Ansatz und gemessen an der tatsächlichen Realität partiell wie politische Utopie anmuten, als auch die rückwärtsgewandten Prozesse im Land bekannt zu machen.




Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur



Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe,

Foto: Carl Gibson



Rumäniens schwierige Rückkehr nach Europa - zum Status quo heute



Doch der Weg zur Demokratie sollte sich sehr langsam gestalten. Präsident Constantinescu, der mehr Demokratie wagen wollte und deshalb viele Voraussetzungen schuf, die in die richtige Richtung wiesen, resignierte bald. Und selbst jetzt im Jahr 2008, nach Traian Băsescus Verurteilung und Verdammung des Kommunismus in Rahmen des Reports, ist das neue EU-Land immer noch meilenweit von der Demokratie entfernt.

Einiges wurde inzwischen zwar auf den Weg gebracht. Doch die meisten Zielsetzungen der Proklamation von Temeschburg, die auch heute noch eine Meßlatte der Entwicklungen darstellt, wurden noch nicht erreicht. Der Status quo ante besteht immer noch. Viele Securitate-Kommunisten sitzen, wie in Russland teils als Oligarchen getarnt, immer noch an den Hebeln der Macht und bestimmen die Richtlinien der Politik aus dem grauen Hintergrund heraus. Und Rumänien, das von außen als ein monolithischer Block in Bewegung wahrgenommen wird, ist in Wirklichkeit ein zerrissenes Land. Es ist ein Staat, dessen Nation scharf gespalten ist; nicht nur zwischen neureich und arm; sondern aufgeteilt in ein fortschrittlich-demokratisches Lager, zu dem, neben der Schicht der Intellektuellen, die Bevölkerung aus den urbanen Zentren gerechnet werden kann, und einer archaisch skeptischen, eher rückwärtsgewandten Landbevölkerung, die intuitiv und ohnmächtig zur Linken strebt, weil sie sich bei den Repräsentanten der Alten Ordnung besser aufgehoben fühlt als bei den Demokraten, die vom Kleinen Mann oft nicht verstanden werden.

Das rechte und ultrarechte Lager der Hetzer und Demagogen, von welchem der Westen kaum Kenntnis hat, dient den kommunistischen Wendehälsen um Iliescu als Tarnschild, um so vom eigenen Machtstreben abzulenken. Demagogie und Verleumdungen sind an der Tagesordnung in der Politik - und Prinzipien haben es schwer, sich durchzusetzen.




Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit
Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur


Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe


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