Mittwoch, 16. Januar 2013

Freiburg


Freiburg



Ich war über Rottweil angereist und hatte noch etwas Zeit und Muße, ziellos durch die Altstadt zu schlendern und den Geist der Geschichte auf mich wirken zu lassen. Freiburg war nicht ganz so alt wie Rottweil, das als Arae Flaviae bereits im Jahr 73 nach Christi Geburt von den Römern gegründet worden war, dafür aber umso vielfältiger und interessanter. Die Geschichte war allgegenwärtig; jeder Zierbrunnen, jedes Bächle, jedes Gebäude des vom Buntsandstein dominierten Stadtkerns verwies auf ein anderes Jahrhundert. Der Lauf der Zeiten stand hinter dem pulsierenden Leben der Straße. Das alt ehrwürdige Universitätsgebäude, an dessen Front Jesus in lichtfunkelnden Goldlettern über die befreiende Wahrheit redete, erschien im gedämpften Tageslicht eines aufziehenden Gewitters tiefrot wie der Wein der Landschaft. Abgeschiedenheit suchend, ging ich zum Fluss hinunter, an das Ufer der Dreisam.

Es war eine kurze Flucht vor dem tobenden Lärm der Stadt im Hintergrund; ein wenig erholsames Eintauchen in die relative Einsamkeit des Ufers. Das monotone Rauschen des Wassers beruhigte trotzdem. Mein Blick streifte die Licht reflektierenden Wellen, die glitzerten wie die Aufschrift auf der Fassade der nahen Alma Mater, ohne ein Ziel zu finden; und das Ohr war erfüllt vom munter dahin plätschernden Nass des reißend schäumenden Flusses, der eigentlich nur ein kräftiger Wildbach war; ein Quell, der aus den Berghängen des Schwarzwaldes herunter schoss, wuchtig und kräftig wie neues Leben, das sich seine Bahn erobert. Panta rhei - ein altes Thema.

War ich an einem Denkort angekommen, wo schon andere Denker über die Tiefen des Seins und über den Urgrund des Wesens nachgedacht hatten? Über Phänomene, die unsere Existenz bestimmen und über die Grundfragen der Metaphysik, beginnend mit Parmenides und Heraklit? War überhaupt alles im Fluss? Gab es überhaupt ein Sein? Oder war alles nur ein Werden? Ein permanentes Neuwerden? Bestimmte uns die Dynamik der Natur oder die Statik der Festlegung?

Etwas vom Hauch der Vergänglichkeit, die einen befällt, wenn man melancholisch sinnend wie zarte Romantiker früherer Jahrhunderte in die Fluten blickt, wo alles wogt und schwindet, fühlte ich auch hier am schnellen Bach, der unweit im Rhein aufgehen sollte. Wie viel Wasser war in den letzten Jahren die Ströme hinab geflossen, während ich strampelte, die Donau hinab, die Rhone und den Rhein? Das flüchtige Wellenspiel beobachtend kam mir jenes philosophische Urgestein in den Sinn, den man im Alten Griechenland den Dunklennannte. Meine Gedanken schwirrten ab in das Reich des Vergehens, zu Gryphius und Lenau in die Welt des Pessimismus und Nihilismus. Vanitas! Vanitatum vanitas! Und dann wieder über Goethes versöhnenden Geist zurück zu den sinnreichen Worten im Sandstein, deren Botschaft über unsere Zeitlichkeit hinauszureichen schien: Die Wahrheit wird euch frei machen. Literatur, Philosophie und Leben bildeten eine Einheit, ein Ganzes, in dem alles miteinander verwoben war und sinnstrukturiert zusammenhing. Auch nach Plötzensee und Auschwitz?

Die Zeit verrann im Nachdenken über das Sein in der Zeit. Nun musste ich weiter in Richtung Bahnhof. Am Universitätsbau angekommen, schritt ich, vorbei an den ehernen Giganten der Geistesgeschichte, die Treppe hoch bis in die Aula, wo Heidegger seinerzeit seine kontrovers diskutierte Rektoratsrede gehalten hatte. Der weite Raum war leer. Der große Geist war ihm entwichen. Wieder stand ich allein im Raum; allein mit meinen Gedanken, die erneut abschweiften - zurück zum Mythos, dann zum Logos, zu den Anfängen der Naturphilosophie, den vier Elementen und den vier Temperamenten; in die Exegese und Interpretation, zurück zu Hermes und Hermes Trismegistos -und schließlich wieder hinein in die hermetisch verklausulierte Welt jenes deutschen Professors von der Alb, der alles erhellen und zusammenführen sollte in der großen enigmatischen Synthese des Seins. Sein Geist schien doch noch irgendwie präsent zu sein und in einer verborgenen Aura weiter zu wirken. Etwas fühlte ich davon und verband damit einen Impuls, eine Aufforderung: wachsam zu sein und am Denken festzuhalten, fern der Metaphysik, doch dicht an der Existenz. Damit war ich wieder in meinem Element wie der Fisch im Wasser, in der Idemität und kosmischen Harmonie, die wiederum Voraussetzung ist für klares Denken und Handeln.

Nach den existentiellen Erfahrungen der letzten Jahre, die mich manchmal in den Grenzbereich von Leben und Tod gebracht hatten, glaubte ich einer zu sein, der wusste, was tatsächliches Existierenist; was Geworfenheit, Sorge, Exponiertheit und was reell erlebte Grenzsituationenbedeuteten. Jaspers, Sartre und Camus sollten mir bald mit ihrem Denken dazu verhelfen, das Erlebte weiter gedanklich zu ordnen und die philosophische Tragweite des tatsächlich existentiell Erlebten in der Existenzerhellung besser erfassen und begreifen zu können. Inzwischen war ich bereit ihnen genau zuzuhören, um zu erfahren, wie sie - aus ihrem Elfenbeinturm heraus - die Freiheitsahen und das Leben.

Doch das war etwas, an dem die Außenwelt nicht teilnahm, ein elitäres Privatvergnügen, hinter dem sich nur das geistige Überleben eines Individuums in einer zutiefst ungeistigen Welt verbarg. Die Tatsachenwelt war eine andere. Hier und jetzt kam es nicht mehr darauf an, über das Leben philosophierend nachzudenken und Schlüsse zu ziehen; jetzt galt es, die tatsächlichen Herausforderungen der Existenz konkret zu bewältigen mit allen neuen Chancen und Risiken, die auf mich zukamen. Und in diesem Prozess verfolgte ich ein bescheideneres Ziel. Ich musste zum Bahnhof und jenen Zug finden, der mich über Basel nach Genf bringen sollte. Also sah ich nach der Zeit, verließ die kontemplative Welt höherer Sphären und eilte zu den Zügen.


Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur



Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe



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