Dienstag, 15. Januar 2013

Herbst 1989


Herbst 1989 - Revolutionäre Umbrüche in Ost-Europa - vom Sturz des letzten Diktators und vom Ende einer Epoche



Es war im Oktober 1989, genau zehn Jahre nach meiner Heimkehr. Die Zeit der Ernte, die Zeit, den Lohn langer Arbeit einzufahren. Auch für mich. Im September war meine Lenau-Monographie erschienen, eine Studie über einen großen Dichter aus dem Banat, an der ich etwa fünf Jahre gearbeitet hatte - im Verborgen fast und nur im Dienst der Wissenschaft. Mein Idealismus hatte sich verlagert und einen neuen Forschungsgegenstand entdeckt - die Literatur-Geschichte. Auf der Frankfurter Buchmesse konnte ich bereits meinem Verleger aus der Distanz dabei zusehen, wie er den Band in der Hand wog, ihn kritisch beäugte und ihn dann ausstellte. Der Verkauf lief überraschend gut. Er wirkte zufrieden. Und ich, der wissenschaftliche Jungautor, der etwas hybrisdurchdrungen eine müde dahin schleichende Lenau-Forschung ankurbeln wollte, war es zunächst auch noch.

Dann reiste ich in das politisch schon instabile Ungarn nach Mosonmagyarovar, um im Rahmen einer Lenau-Tagung mein Buch vorzustellen. Viele Hoffnungen verbanden sich mit dem Projekt. Wer lange gesät, gehegt, gepflegt, gezittert und geschwitzt hat, will irgendwann einmal die Früchte seiner Taten genießen, in stiller Anschauung und Kontemplation. Auch ich.

Doch es kam anders - auf vielen Ebenen. In dem memorialistischen Parallelwerk zur Symphonie,in: Gegen den Strom – Deutsche Identität und Exodus, das diejenigen lesen sollten, die noch mehr und genaueres über das Davor und Danach wissen wollen, berichte ich auch aus dieser kritischen Zeit.


Die Leipziger Freiheitsdemonstrationen wurden heftiger. In Prag wurde die Deutsche Botschaft von Flüchtlingen überrannt. Das Regime in Ostberlin, für alle sichtbar am Ende, verfiel in Apathie. Michail Gorbatschow forderte die Einlösung der von ihm auf dem Weg gebrachten Reformen ein - die Umsetzung von Glasnost und Perestroika, auch in der DDR. Schließlich nahm die Idee der Freiheit überhand und fegte das morsche Regime seniler Altkommunisten einfach weg. Die Mauer fiel - und mit ihr das Bollwerk des Ostblocks, dessen politisches System den Weltfrieden bedroht hatte.

Während dieser Zeit, als meine aktive Dissidenz bereits mehr und mehr in den Hintergrund trat, schwappten die revolutionären Ereignisse auch auf Rumänien über, in die letzte und finsterste Bastion eines real existierenden Sozialismus. Im Geist von Glasnost und Perestroika war es auch dort bereits vor Jahren zu individuellen Widerstandsbewegungen gekommen; 1987 zum großen Aufruhr von Kronstadt in Siebenbürgen - und jetzt folgte, an einem Funken des religiösen Protests entzündet, die Temeschburger Revolution. Etwas von der Saat freiheitlichen Aufbegehrens, die wir Bauernjungen und Gärtnersöhne aus dem Banat einst ausgebracht hatten, schien auf fruchtbaren Boden gefallen und aufgegangen zu sein. In meiner Geburtsstadt, die Dissidenten wie Ana Blandiana und Dorin Tudoran hervorgebracht hatte, tobte in den ersten Dezembertagen des Jahres 1989 ein kleiner Bürgerkrieg. Panzer fuhren auf. Maschinengewehre ratterten. Geschosse peitschen durch die Luft und töteten Menschen, darunter zahlreiche Unbeteiligte und Friedfertige.

Was war geschehen? Als der ungarische Pfarrer Tökes gegen seinen Willen und im Dissens zu geltenden Bestimmungen der Amtskirche von seinem Wirkungsort in Temeschburg entfernt und in einen entlegenen Ort im Landesinneren versetzt werden sollte, um so von seiner treuen Gemeinde abgeschnitten zu werden, entschlossen sich seine Anhänger zum Widerstand.

Zunächst rebellierten Gläubige der ungarischen Minderheit aus Temeschburg und widersetzten sich offen der staatlichen Willkür, die ihnen mit Pfarrer Tökes einen geistig-religiösen Führer und oppositionellen Kristallisationspunkt rauben wollte. Nachdem sich immer mehr Rumänen der Rebellion angeschlossen hatten, erfassten die Unruhen weite Teile der Josephstadt und griffen unmittelbar danach auf ganz Temeschburg über. Bereits nach wenigen Tagen befanden sich ganze Landstriche des Banats und somit der westliche Landesteil Rumäniens in hellem Aufruhr.

Selbst im beschaulichen Sackelhausen vor den Toren der Stadt fielen Schüsse und forderten Opfer. In wenigen Tagen starben, wie man heute weiß, allein auf den Straßen von Temeschburg mehr als 150 Menschen - Kämpfer, Revolutionäre, Unschuldige, viele von ihnen im Kampf für das Ideal der Freiheitals politische und individuelle Selbstemanzipation. Von offizieller Seite aus, namentlich aus den Desinformationszentralen der Securitate, wurden astronomisch übertriebene Opferzahlen nach außen vermeldet, um damit den Einsatz des Militärs gegen Zivilisten zu rechtfertigen.

Fünfzigtausend Tote sollte es gegeben haben und mehr - Zahlen die von westlichen Medien, die kaum wussten, wo Temeschburg lag, bereitwillig und unkritisch übernommen wurden. Als der Aufruhr der Massen gegen die Diktatur im Land seinen Lauf nahm und sich bereits eindeutig zur nicht mehr friedlichen revolutionären Bewegung steigerte, saß ich konsterniert vor dem Fernseher und verfolgte, tausend Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt, die Ereignisse auf den Straßen, auf denen ich meine Jugend zurückgelassen hatte. Von der zweitgrößten Stadt des Landes ausgehend, weiteten sich die revolutionären Ereignisse innerhalb von kaum zwei Wochen auf andere Regionen aus, ergriffen weitere urbane Zentren im Landesinnern, einschließlich die Hauptstadt Bukarest. Dort kam es zur offenen Revolte. Rebellen, die Barrikaden errichtet hatten und zur Ausweitung der Massenerhebung aufriefen, wurden von Repressionseinheiten der Securitate und loyalen Teilen der Armee gnadenlos niedergemetzelt.

In der Weihnachtszeit, wo die Christliche Welt Einkehr halten und besinnliche Tage der Harmonie erleben wollte, fielen 1989 in den Straßen der Hauptstadt mehr als tausend Menschen, bevor der hohe und im damaligen Ostblock einmalige Blutzoll zur Ablösung der letzten Schreckensherrschaft in Osteuropa führte.

1000 Menschenleben - wofür? Nach Berlin, Budapest und Prag!

Für die Freiheit in allen ihren Formen! Für das freie Leben nach der lange währenden Diktatur! Markanterweise vollzog sich der Sturz von Diktator Ceauşescu und seiner ebenso machtbesessenen Gattin vor den Augen der Welt. Jeder Fernsehzuschauer konnte realitätsnah mitverfolgen, wie ein vom eigenen Volk zurückgewiesener Ceauşescu strauchelte, wankte und fiel - und wie mit ihm nahezu paradigmatisch- verdrängt von der Wucht der Freiheit, die Zeit der Diktatoren in Osteuropa endgültig zu Ende ging.

Es war ein Schlüsselereignis - und doch auch nur die Konsequenz von Abläufen, die mit der ungarischen Grenzöffnung, der Botschaftsbesetzung in Prag und den Herbstdemonstrationen in Leipzig begonnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die Berliner Mauer bereits von Mauerspechten durchlöchert worden und faktisch gefallen. Die Grenze zur ehemaligen DDR war seit zwei Wochen für beide Seiten durchlässig geworden. Und ich hatte mich gleich am ersten Tag der Grenzöffnung von Coburg aus nach Thüringen begeben, um dort freudig empfangen zu werden und in tausend bewegte Augen zu blicken.

Der Eiserne Vorhang riss irreparabel an vielen Stellen. Siebzehn Millionen Deutsche fanden ihre Freiheit wieder, Abermillionen Polen, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Bulgaren, Balten und bald auch Rumänen. Der Ostblock löste sich allmählich auf und mit ihm das große Völkergefängnis Sowjetunion, aus dem ganze Staaten in die Souveränität entlassen wurden. Die Menschen in Europa und in der Welt durchlebten damals weltgeschichtliche Tage, ergreifende Tage der Freiheit und der Hoffnung, an deren Genese auch mancher Oppositionelle und Dissident aus unseren Reihen eine winzige Kleinigkeit mitgewirkt hatte.

Jetzt bekam unser Tun von damals einen neuen Sinn. Ein märchenhafter Traum wurde wahr. Literatur, Forschung und Wissenschaft traten für mich für kurze Zeit in den Hintergrund. Die Erhabenheit des historischen Augenblicks ließ alles Profane weichen. Wie viele Millionen Menschen im Alten Europa und in anderen Teilen der Welt, saß auch ich täglich vor dem Fernseher, manchmal fast rund um die Uhr, und verfolgte gebannt wie euphorisiert politische Veränderungen und Abläufe, an deren Verwirklichung ich selbst schon fast nicht mehr geglaubt hatte. Wie andere Landsleute und Patrioten gewahrte ich mit Staunen, wie die politischen Kontrahenten von einst, Willy Brandt, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker und andere stimmgewaltige Volksvertreter die Worte Einigkeit und Recht und Freiheit sangen; und ich fühlte, wie der lange von vielen deutschen Patrioten geträumte Traum von der deutschen Einheit näher rückte. Aber ich sah auch die zerknirschte Mine von Margret Thatcher, die Deutschland so sehr geliebt hatte, weil es gleich zwei davon in Europa gab und den versöhnlicheren François Mitterand, der mit der Tatsache leben musste, dass es, ungeachtet aller Menschenopfer in den Weltkriegen, immer noch mehr Deutsche gab als Franzosen. Gleichzeitig vermerkte ich aber auch die wohlwollende Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika als Gegengewicht, an deren Spitze ein Präsident stand, der noch ein Staatsmann war und der den eigendynamisch abrollenden Triumphzug der Freiheit noch aus früheren Erfahrungen heraus zu würdigen wusste. George Bush, der Vater des weniger begnadeten und wenig glückhaften US Präsidenten gleichen Nachnamens, hatte als Diplomat den Kommunismus in Maos Reich ausgiebig beobachten können, um die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen, um sich auf die Seite der freiheitlichen Versöhnung zu schlagen und des Zusammenklangs - nicht nur für Deutsche, um ihnen die Einheit zu bringen, sondern für alle bis dahin unterjochten Völker Osteuropas als ein Akt der Wiedergutmachung für das nach 1945 erlittene Unrecht.

Während ich vom Rausch der Ereignisse ergriffen im Fernsehsessel hin und her rutschte, rollte vor meinen Augen große Geschichte ab, besondere Geschichte, einzigartige Geschichte - deutsche Geschichte. Und ich verfolgte die welthistorischen Ereignisse als Betroffener, teils exzessiv unter Adrenalinauswirkung wie früher, teils als Staunender wie vor der Enigmatik des Universums. Gleichzeitig schielte ich tief in den Osten hinein, nach Temeschburg, nach Bukarest, nach Rumänien, Bulgarien und in die langsam zerbröckelnde Sowjetunion Michael Gorbatschows und somit in eine Welt, mit der ich längst noch nicht abgeschlossen hatte. Emotional war ich noch dort - und mittendrin, obwohl mein Lebensweg weiter nach Westen drängte, über den Ozean hinaus, in die Neue Welt, bis nach Amerika vielleicht.

Unmittelbar nachdem ich an Weihnachten 1989 zum ersten Mal die deutsche Landesgrenze in die lange von Sowjets besetzten Gebiete überschritten und die Menschen der dahinschwindenden Pseudodemokratie erstmals in Freiheit erlebt hatte, bestieg ich mit Erwin ein Flugzeug nach New York.

Die Amerikareise war bereits vor Monaten geplant worden, zu einem Zeitpunkt, als die turbulenten Umwälzungen des Spätherbstes in ganz Osteuropa noch nicht erahnt werden konnten. Wer hätte solche Entwicklungen voraussehen können? Es war bereits unser zweiter Trip in die Vereinigten Staaten, in das immer noch viel bewunderte Land der großen Freiheitenund Möglichkeiten. Seit der ersten Erkundungsreise in den imaginierten Garten Eden, in das moderne Schlaraffenland, wo immer noch Milch und Honig flossen, waren fünf Jahre verflossen. Wir hatten damals einen Winter in Florida erlebt - mit halbreifen Apfelsinen, die ein plötzlich einbrechender Frost auf dem Plantagenboden verstreut hatte. Wir hatten tief verschneite Appalachen gesehen, dann aber auch ein sonnenverbranntes Kalifornien ohne Regen, die Mohave-Wüste und das Tal des Todes - und ein depressives Amerika der Bodenspekulanten, das danieder lag wie die Preise an der Wall Street: ein Amerika in der Rezession.

Doch diesmal, zwei Jahre nach dem Großen Crash, wollten wir andere Dinge erleben, schönere, erhabenere Sachen. Diesmal wollten wir unbedingt auch die Statue der Freiheit aus der Nähe betrachten, deren Miniaturausgabe ich einst in Paris bewundert hatte. Während wir vom weihnachtlichen Würzburg aus zum Frankfurter Flughafen aufbrachen, tobte in den Straßen von Bukarest noch immer ein undurchschaubarer und blutiger Bürgerkrieg, dessen Ausgang ungewiss war. Ein bloßes Wegsehen war ebenso unmöglich wie das Mitfühlen mit den Menschen im Revolutionsgeschehen, schon gar nicht für Betroffene. Der Geist eilte schon nach New York voraus, während das Herz noch in Temeschburg verweilte, in den Straßen an der Bega, woher immer neue Horrorgeschichten an unser Ohr drangen. In Bukarest tobte ein Bürgerkrieg. Chaos überall, Nebelschleier und Buschtrommel. Bewusst aufnehmen konnte ich nur das, was über die Nachrichtensender und Fernsehkanäle kam. Allerdings klang das meiste davon widersprüchlich und irreal. Was war Information, was gezielte Desinformation? Wer bezweckte was? Teile der Armee schossen auf Teile der bewaffneten Securitate. Dabei verloren innerhalb von Tagen gute tausend Menschen ihr Leben, unter ihnen viele Unbeteiligte. Ein paar Kampfszenen aus der Hauptstadt, deren Straßen uns noch in Erinnerung waren, hatten wir beide noch vor der Abreise über den Bildschirm flimmern sehen. Sie glichen den Tumulten in Temeschburg: überall Tote, Mythen, Mären, Schreckensmeldungen, irreal anmutende Horrorgeschichten, in welchen sich Fiktion und Wahrheit mischten, doch wenig Konkretes. Es knallte im Fernsehen - wie in einem Kinostreifen mit John Wayne. Und immer wieder fragte ich mich, wer schoss auf wen? Wer hatte überhaupt Waffen, um auf andere zu schießen, außer der nationalen Armee und dem Sicherheitsdienst Securitate? Und was sollte die plötzlich in die Welt gesetzte Mär von arabischen Terroristen, die irgendwie in das Revolutionsgeschehen eingegriffen haben sollten? Wer streute diese Meldungen? Wer lenkte die Nachrichtenagenturen und das staatliche Fernsehen, nachdem der Diktator abgetreten war? War das nur gezielte Ablenkung, um obskuren Einzelakteuren zu einem Coup d’etat zu verhelfen? Vieles erschien mir undurchschaubar - schließlich hatte ich seit zehn Jahren das Land verlassen.



Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur



Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe


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