Montag, 14. Januar 2013

Ion Caraion - Januskopf und Chamäleon oder Opfer des langen Arms der Revolution?

Januskopf und Chamäleon oder Opfer des langen Arms der Revolution?


Als der Fall Artur publik wurde, jene Akte, die Caraion als angeblichen Kollaborateur der Securitate seit 1964 entlarvte, waren fast alle gegen ihn - das Pro wurde nicht mehr gesehen. In seinem Fall, der wirklich ein Fall ist, ein sehr interessanter sogar, weil aus ihm die gesamte sozialistische Wirklichkeit hervorscheint, gibt es vorerst nur ein Kontra. Während dieses Buch geschrieben wurde, musste ich, um der Tendenz Rechnung zu tragen, zumindest ein Fragezeichen über mein Kapitel setzen - ohne Überzeugung! Unsicher geworden fragte ich bei Kollegen herum, die Caraion schon vor Jahrzehnten näher gekannt hatten und an deren Wort ich nicht zweifelte. Genaues wusste keiner. Doch einiges erschien plötzlich plausibel und belastend für den Dichter. „Ja, Caraion!“ schrieb mir Dieter Schlesak, der an der Seite des Repräsentanten des Rumänischen Schriftstellerverbandes Caraion etwa im Jahr 1968 zum ersten Mal in den Westen gereist war: „Wahnsinn, dass ich mich erinnern muss. Artur? Kannte den Namen erst seit 2001. Damals, ich hatte meine erste Westreise mit ihm nach Mondorf gemacht, war er ein Held für mich. Dann irgendwie in den Trinknächten, gab er was preis, ja, schien beichten zu wollen. Jedenfalls war es seltsam, dass er alle rumänischen Exilintellektuellen treffen wollte. Aber seltsam auch, dass er aushorchte. Und vorher und später mich mehrfach zu sich einlud, den Edlen spielte, den Verfolgten, mein „Freund“ wurde, schon in Bukarest, o Gott, o Gott, welch ein Monstrum. Jetzt erst kommt alles raus. Und 1945 war er mit Ceauşescu befreundet, sie wollten eine Zeitschrift herausgeben. Er war ja auch Illegalist gewesen. Vielleicht muss ich mal was darüber schreiben! War auch angesetzt auf mich.“Soweit die Stimme eines möglichen Opfers aus der Rückschau.

Was kannte ich von Caraions Kunst, bevor wir uns im Exil begegneten? Nicht viel. Einige seiner expressionistischen Gedichte hatte ich überflogen, die ihn fern mit Baudelaire und den französischen Symbolisten verbanden, über die er vertieft gearbeitet hatte. Und einen langen Essay über Tudor Arghezi als Einleitung in dessen Werk, in welchem er auch über sich sprach und über das Agora-Projekt. Dann einen weiteren Essay Bacovia. Das sich fortsetzende Ende, ein Beitrag über den großen Einzelgänger im rumänischen Expressionismus, zu dem ich - als sechzehnjähriger Schüler mit seinen depressiven Blei-Versen konfrontiert, noch keinen angemessenen Zugang hatte.

Caraion war zudem ein Meister des komplexen Essays, wie ich ihn liebe. Als Essayist verkörperte er den inzwischen zur raren, ja aussterbenden Spezies gewordenen poeta doctus par excellence, der seinen Übersetzer mehr forderte als viele andere Geistesgrößen der Zeit. Davon konnte ich als Übersetzer seines nomen-Beitrags, den ich nur mit viel Mühe ins Deutsche übertrug, ein Lied singen. Als Poet war er ein auch an Bacovia geschulter Expressionist, der die Tiefe des Poetischen, die der rumänischen Sprache und Kultur innewohnt, zu höchster Kunstfertigkeit steigern konnte - leider, wie so oft, unübersetzbar, schon gar nicht in eine germanische Sprache. Von allen Lyrikern der Gegenwart hat er die Möglichkeiten des Rumänischen vielleicht am weitesten ausgelotet.

Und heute wird der tote Dichter mit dem Vorwurf konfrontiert, angesichts seines ethischen Versagens verblasse die ästhetische Leistung! Welch ein Hohn? Doch die textimmanente Interpretation wird anders urteilen. Als politisch Denkender und als Mensch erschien er mir als ein aufgeklärter Idealist, ein unerschütterlicher Himmelsstürmer, der für seine antitotalitäre Haltung auch zu leiden bereit war:„Meine Feststellung, Faschismus und Kommunismus seien im Prinzip die gleiche Sache, hat mir eine Verurteilung zum Tode eingebracht“, sagte er mir eines Tages in einem Gespräch, als wir am Ufer des Genfer Sees promenierten und etwas von der Freiheit genossen, die uns das Leben doch noch geschenkt hatte: „Für sie war ich schon damals ein obskurer Vaterlandsverräter, ein Freund des Westens, der mit bürgerlichen Decadents Umgang pflegte, der im Reich des Kapitals seine Gedichte zu veröffentlichen trachtete, ein Klassenfeind und Kosmopolit, der das eigene Schicksal und das Schicksal der Welt über das Vaterland stellt … und sie haben es mich büßen lassen, in ihrem Vernichtungslager am Donau - Schwarzmeerkanal und dann in den Bleiminen von Cavnic und Baia Sprie, wo wir, tausend Meter unter der Erde, bei nackten Leibe und heißen Dämpfen schuften mussten wie Galeerensklaven und auch wie jene krepierten … Als dann im Jahr 1964 die große Amnestie kam und nahezu alle politischen Häftlinge entlassen wurden, war ich nur noch Haut und Knochen. Wenn es noch eine Weile so weitergegangen wäre, hätte ich nicht überlebt.“ Ion Caraion wurde kurz vor der Amnestie aus der Haft entlassen, nachdem er fünf von fünfundzwanzig Jahren verbüßt hatte.

Seine Story erschien mir authentisch und über jeden Zweifel erhaben, während andere in späterer Rückschau zur Auffassung neigten, Caraion hätte damals, unmittelbar vor der Entlassung am Ende seiner Kräfte angelangt, psychisch in die Enge getrieben und unmittelbar vor der Verzweiflung stehend, einen Pakt mit dem Teufel unterschrieben, um überhaupt frei zu kommen. Der Preis der eigenen Freiheit sei nicht die überantwortete Seele gewesen, sondern die eindeutige Kollaboration mit der Geheimpolizei und die spätere Denunziation von regimekritischen Schriftstellerkollegen.

War Caraion eine tragische Gestalt, ein Opfer, das aus existentieller Not handelt und dabei sein Gewissen in die Waagschale wirft, wegwirft - ein Heros, aus dem ein Antiheld wird? Solchen Überlegungen hätte ich damals nicht folgen können. Sie wären mir abstrus und literarisch forciert erschienen. Und auch heute kann ich die nicht voll substanziierten Thesen kaum ernst nehmen. Unveröffentlichte Manuskripte aus den Archiven der Securitate, die um 1995 von der Nachfolgeorganisation SRI der Familie zurückgegeben wurden, entlasten Caraion. Denn daraus spricht kein verhätschelter Zögling und Informant des Systems, sondern ein fast mittelloser, in die Enge getriebener Autor, der sich mit der Zensur herumschlägt, weil diese ihm die Interpretation seines Preda-Essays vorgeben will und ein verzweifelter Familienvater im Zwist mit seiner Frau, weil er nicht weiß, woher er die 100 Lei nehmen soll, um das fiebernde Kind ärztlich behandeln zu lassen. Es wurmt ihn mit ansehen zu müssen, wie servile Diener der Partei, Stalinisten von gestern, ihr Süppchen kochen, ihn verlachen und die Straßenseite wechseln, wenn er kommt; und dass diese Leute, deren Poesie sich verbreitet wie die Fliegen, Worte wie Ethik und Moral im Munde führen, dabei ihre kaum erst begangenen Verbrechen vergessen. Das war im Jahr 1971, also zu einer Zeit relativer Liberalität und Aufwärtsentwicklung im Land.

Darüber hinaus spricht alles, was Caraion im Westen unternahm, was er an antikommunistischer Dissidenz und Agitation entfaltete, gegen eine Vereinahmung durch die Staatskommunisten. Konnte ein potentieller Agent der Securitate, der in den Westen geschickt wurde, um das geistig-literarische Exil zu destabilisieren, über Radio Freies Europa vehement und zynisch gegen Bukarest wettern und den Menschen ins Gewissen reden, nur um eine perfekte Tarnung aufrecht zu erhalten? Caraion hat das Diktatorenehepaar wüst beschimpft, für meinen Geschmack sogar zu wüst! War das etwa die Tarnung des Chamäleons, eine Maske unter vielen?

Auch daran weigerte ich mich zu glauben. So etwas war theoretisch denkbar, in der Praxis aber höchst abwegig. Caraions Gesundheit war nach langjähriger Schwerstarbeit unter Tage bei hoher Strahlenbelastung und permanenter Vergiftung stark angeschlagen, ja zerstört. Nach der Entlassung wies er physische Verletzungen auf und war mit Tuberkulose infiziert - nur sein Geist war noch immer rege und der Wille, die verlorene Zeit wettzumachen und poetische Werke zu schaffen. Trotzdem war er ein Gezeichneter.

Die schwere Haft, die unzähligen Verhöre über dreißig Jahre, teils innerhalb, teils außerhalb der Gefängnismauern und das immer unerträglicher werdende Dasein eines Verfolgten, eines Exponierten und Angefeindeten außerhalb der Zelle, doch innerhalb weiterer Schranken und Grenze, überlebt man nicht ohne Schäden an Leib und Seele. Wusste ich doch selbst, was politische Häftlinge alles erdulden müssen und was es bedeutet, den sozialistischen Alltag zu Tag für Tag zu meistern. Wie oft hatten wir die RFE-Sendung Die Geschichte der Rede - Vergessene Seiten, Zensierte Seiten, Exilierte Seiten, verfolgt, die Caraions literarischer Kompagnon von einst Virgil Ierunca aus dem Pariser Exil moderierte? Hundertfach waren die stalinistischen Haftbedingungen dort geschildert worden, plastisch und realitätsnah aus der Sicht von Augenzeugen. Politische Freunde, die ähnliches durchgemacht hatten, erhärteten die Fakten zusätzlich. Bis 1964 hatte Caraion diese von Alexander Solschenizyn in die Weltliteratur eingebrachte Schreckenszeit stalinistischer Haft voll miterlebt. Doch er ließ sich nicht unterkriegen und fand, wieder in relative Freiheit gelangt, zu ungeheuer Produktivität, so als wollte er in kurzer Zeit all die Jahre des Stumpfsinns und des Nichtstuns wieder aufholen. Nahezu jährlich legte er einen Gedichtband vor.

Ienei-Kirche, Bukarest

Wie kam es aber, dass er, der lange Zeit Stigmatisierte, nun doch so großzügig veröffentlichen durfte? Das fragte auch ich mich später einmal, als ich die bibliographischen Auflistungen überflog, die er mir geschickt hatte. Was führte dazu, dass er zum Chefredakteur einer literarischen Zeitschrift aufstieg? Und dass er im Rumänischen Schriftstellerverband seine Position ausbaute, immer einflussreicher wurde und den Verband auch im Westen als Aushängeschild repräsentieren durfte? Waren es nur die talentierten Gedichte, die zu enigmatisch waren, um vom Zensor gestoppt zu werden, die seinen Ruhm als Dichter begründeten? War es allein die Fachkompetenz, die seinen Aufstieg förderte? Oder waren es ganz andere Faktoren, die seinen Stern kometenhaft aufsteigen ließen?

Protegierte und begünstigte ihn jetzt gar der Geheimdienst - oder hatte er einen noch mächtigeren Mentor, ganz oben vielleicht?

Spätere Gerüchte, die der Literaturkritiker Nicolae Manolescu im Jahr 2006 anlässlich der Buchpräsentation zum Fall Artur, Caraions Pseudo-Pseudonym, verbreitete, unterstellen ihm, er hätte den oft geschmähten, späteren Staatschef Nicolae Ceauşescu persönlich sehr gut gekannt. Angeblich wollten die drei Linken Caraion, Ierunca und Ceauşescu in frühstalinistischer Zeit eine gemeinsame Zeitschrift herausgeben, ein kommunistisches Propagandablatt! Eine Legende? Nicolae Manolescu, als kulturelle Autorität zum Mitglied der späteren Präsidialkommission zur Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien berufen, dürfte kein Interesse haben, abenteuerliche Thesen und Gerüchte in die Welt zu setzen. Wenn seine Informationen, die allerdings nirgendwo belegt sind, tatsächlich stimmten, würden sie manches erklären.

War Caraion doch ein Chamäleon? Ein Proteus der Literatur, der einen eigenen Modus vivendi gefunden hatte, um im sozialistischen Alltag doch noch zu überleben? Darauf konnte ich damals nicht kommen, weil seine Vita dagegen sprach. Also vertraute ich ihm weiter und schob leise Bedenken anderer arglos beiseite. Über die konsequent kommunismuskritische Haltung hinaus hatte das Geschaffene in meinen Augen absolute Priorität, das vorliegende Werk, zahlreiche Gedichtbände und die Essays. Teilweise wurde ihr Erscheinen sicher auch durch die Liberalisierungstendenzen der späten Sechziger und frühen Siebziger Jahre, die noch mit einem Anstieg des allgemeinen Lebensniveaus im Land einhergingen, begünstigt, bevor die einsetzende Minikulturrevolution in Bukarest das Rad der Geschichte noch einmal massiv zurückzudrehen suchte.


In Bukarest







Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur


Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten - Leseprobe,

Fotos: Carl Gibson

 

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