Mittwoch, 16. Januar 2013

Offener Ost-West-Dialog im Zug nach Genf – Schein oder Sein


Offener Ost-West-Dialog im Zug nach Genf – Schein oder Sein



Freiburg Hauptbahnhof. Der Zug nach Süden rollte ein. Gelassen stieg ich zu, suchte und fand auch gleich das, wonach ich in der Regel immer Ausschau hielt, wenn ich mit der Bahn unterwegs war: ein leeres Abteil, eine Stätte, wo man ungestört verweilen, Einkehr halten und die Innen- wie Außenwelt am besten erleben konnte. War das ein Glückstag? Vielleicht!

Mitreisende kann man sich ebensowenig aussuchen wie nahe Verwandte. Sie alle können aus einem geselligen Menschen einen Misanthropen machen. Schon deshalb suchte ich die Einsamkeit im Zug, die freiwillige Abgeschiedenheit; aber auch um über künftige Dinge nachzudenken, um zu lesen und dann, wenn ich müde werden sollte, ruhig die Landschaft zu beobachten, die auf dieser Fahrt recht abwechslungsreich zu werden versprach.

Obwohl ich schon seit einem guten Jahr im Westen lebte, bereits viel herumgereist war und auch schon manches gesehen hatte, interessierte mich immer noch alles, was an neuen Eindrücken auf mich zukam. Wer lange eingesperrt war wie ich, zunächst in einem großen Gefängnis und dann in einer kleinen Zelle, sieht vieles mit anderen Augen und genießt viele Dinge und Erscheinungen mit anderen Sinnen. Doch noch während ich im vorderen Zugbereich am Fenster sitzend und mit dem Blick in die Fahrtrichtung auf den Abpfiff wartete, war es mit der Selbstisolation vorbei.

Eine reifere Dame, die gerade an diesem Abteil Gefallen zu finden schien, schob die Tür zurück: „Ist hier noch ein Sitzplatz frei - und darf ich mich zu Ihnen setzen?“fragte sie höflich, nachdem sie mich einige Sekunden kritisch gemustert hatte. Es war eine rhetorische Frage, eine Floskel; denn noch bevor ich etwas erwidern konnte, schickte sie sich bereits an, mir gegenüber Platz zu nehmen. Was konnte ich anderes tun, als ihr behilflich zu sein, die schwere Reisetasche zu verstauen.

Das Nachdenken war vorerst dahin und jede Konzentration. Allein die bloße Präsenz reichte aus, um meine Intimsphäre zu durchbrechen. Äußerlichkeiten drängten sich auf, ein penetrantes Maiglöckchenparfüm und das extravagant pastellfarbene Kostüm mit lindgrünem Hut. Madame Pompadour auf Reisen?

Das Aufdringlichste an der Diva, die der Siebzig wohl näher stand als der Sechzig, dies aber gut zu kaschieren wusste, war ihr überreicher Schmuck. Überhangen wie ein Weihnachtsbaum trug sie das Geschmeide über den ganzen Körper verteilt. Ein Kranz weißer Perlen zierte den welken Hals und schweres Gold liftete die Ohren. Am Unterarm erkannte ich einige filigran gearbeitete Reifen aus Platin wie ich sie früher bei Zigeunern gesehen hatte, nur edler. Selbst an den Fingern führte sie noch ein kleines Vermögen mit sich, wuchtige gelbe Ringe, die zum Teil mit grünlichen Smaragden und blutrot funkelnden Rubinen besetzt waren. Bunte Steine erinnerten an Literatur und an die farbige Welt vor unseren Augen.

Geld schien in ihrem Leben keine besondere Rolle zu spielen - oder eine große Rolle? Überzeugt, der Mensch könne ohne jeden Luxus auskommen, wusste ich nicht viel über Edelsteine, noch über Geld.

War Zier wirklich notwendig? Waren diese Preziosen notwendige Accessoires der Frau, Kleinodien, die zu ihr gehörten und die jede Frau gerne haben wollte, weil sie das Wesen des Weiblichen ausmachten? Standen sie für innere Schönheit oder ersetzten die diese nur? Oder war der teure Plunder nur ein Signum des Wohlstands, ein beiläufiger Hinweis darauf, dass es einem gut ging? Doch das Betrachten der Steine, das fiel mir kaum auf, lenkte mich vom Studium des Menschen ab.

Viel Täuschung lag im Gefunkel. Wer genauer hinsah, erkannte hinter dem Rot der Rubine die geröteten Augen der Kinderarbeiter, die diese Steine unter Lebensgefahr aus den Tiefen der Anden hervorgeholt hatten. Was machte diese Steine also begehrenswert, die Seltenheit oder das blutige Opfer dahinter?

Erhöhten sie den sittlichen Wert des Menschen, der sie trug? Oder waren sie doch nur Elemente des Scheins, die vom wahren Sein ablenkten und irgendwo eine innere Leere verdeckten?

Vielleicht kompensierten sie auch nur verlorene Werte von einst, die Jugend vielleicht, oder die Schönheit? Reagierten Frauen anders auf die Verlockungen der Scheinwelt als wir Asketen? War Eva da anfälliger Adam? Noch war es wohl nicht gelungen, die Frau vom Schönen Schein abzubringen, vom Scheinen und von der Welt des Scheins, vom Drang nach Gold, nach fremden Düften und nach ganzen Eimern Schminke. Wo kein Selbst war, und das galt für beide Geschlechter, dort musste oft nachgeholfen werden - mit eitlen Tand. Und je mehr die natürliche Schönheit verblasste, desto deutlicher wurde kompensiert, um schön zu wirken, um die Begehrlichkeit zu steigern, auch wenn die Natur keine Eroberung mehr vorgesehen hatte.

Auge in Auge sitzend, musterten wir uns immer noch gegenseitig mit dem Misstrauen weit auseinander liegender Generationen, ganz so, als wollten wir uns einen ersten Eindruck verschaffen, wer es mit wem zu tun hat. Worüber hätten wir uns unterhalten können? Über geschlechtsspezifische Unterschiede - auch in der Wahrnehmung der Welt? Über das Elend, aus dem ich kam und über das vielfache Leiden, das ich mit angeschaut hatte?

Bestimmt nicht! Wie der Mann, der anders denkt und anders programmiert ist, die Frau nicht ganz versteht, so hätte die Dame meine Sicht der Dinge wohl kaum verstanden. Ob sich meine Verachtung der Materie in einem entsprechenden Blick niederschlug? Eher nicht! Die Aura blieb von einer gegenseitigen Freundlichkeit, ja Sympathie bestimmt. Selbst das kräftige Maiglöckchenparfüm, dessen Duft inzwischen den gesamten Raum einnahm, schien irgendwann erträglich; verdrängte es doch den lästigen Tabakqualm, der sich in allen Sitzen und Ritzen des Abteils eingenistet hatte.

Ein gütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Worüber sie wohl nachdachte? In einen besseren Anzug geklemmt, am Hals eine eng geschnürte Krawatte, die meine Atemfreiheit etwas einschränkte, saß ich da - ein Handlungsreisender in Sachen Freiheit. Mein Frisör hatte die wilde Studentenmähne gerade noch etwas zurück geschnitten, den struppigen Vollbart gekürzt und den Wildwuchs der Augenbrauen eingedämmt. Damit war ich, wie es der Figaro später auszudrücken pflegte, entwaigelt und somit salonfähig für den Eintritt in die bessere Gesellschaft des mondänen Genf. Immer wenn eine höhere Mission anstand und ich auf Reisen ging, an die Seine, an die Themse, an die Isar, an die Spree oder wie jetzt, an den Genfer See, war oft eine äußerliche Verwandlung angesagt, ein Herauspolieren und Fitmachen für die bessere Gesellschaft. Homo sum? Weit gefehlt! In der feineren Welt zählte der erste Eindruck - das Akzidens, nicht die Substanz. Proteus gleich, musste der rebellische Student, innerlich schizophren aufgespalten zwischen Jekyll und Hyde, auch nach außen zum Gentleman metamorphosieren, mutieren, wollte er seinen Auftrag nicht zu gefährden. Keinesfalls durfte ich unglaubwürdig erscheinen, bevor das Testimonium abgelegt war. Das waren die Spielregeln der freien – an sich schon geschlossenen - Gesellschaft, an die sich auch ein Aufmüpfiger zu halten hatte - das ist die Macht der Konvention, auch heute: Die Gewichtung der Erscheinung geht der Wucht des wahren Wortes voraus wie das Vorurteil dem Urteil vorauseilt - und der Schein dem Sein!

Will die Welt betrogen sein?

Vieles deutet darauf hin. Minuten vergingen. Keiner sagte ein Wort. Die Landschaft bewegte sich wie auf einer Kinoleinwand. Und das Kleinhirn ließ sich wieder täuschen. Täuschung überall, auch dort, wo Erkennen vermutet wird? Freiburg lag hinter uns. Der Zug wurde schneller.

„Sie sind sicher geschäftlich unterwegs?“ tastete sich die Dame sondierend an mich heran, nachdem der Zug bereits volle Fahrt aufgenommen hatte.

„Teils, teils“, antwortete ich nebulös ausweichend, da das mit den Geschäften nicht wirklich zutraf.

Geschäfte!Welch eine Umschreibung für die anstehenden Aufgaben? Der Sozialismus hatte seinen undifferenzierten Sprachgebrauch, seine Floskeln; und die kapitalistische Welt die ihre. Und auf beiden Seiten verwies die uneigentliche Sprache auf die Uneigentlichkeit der Existenz.

Jetzt aber galt es den Kopfgeburten Einhalt zu gebieten und das unselige Psychologisieren einzustellen, bevor aus der Zugfahrt ein moderner, aphorismenstrotzender Roman wurde. Nur: Philosophen denken anders und schreiben anders, auch wenn sie als ehemalige Dissidenten unterwegs sind.

„Sie wollen mir nichts verraten, das merke ich schon …“ lächelte sie süffisant und wollte sich gerade abwenden, als meine nachhinkenden Worte sie in die kaum erst aufkommende Kommunikation zurückholten: „Nach Genf will ich … in einer rechtlichen Angelegenheit …“ ergänzte ich dann nach einigen Sekunden des Abwartens lässig und mit halber Stimme, einem Angler gleich, der einen Köder auswirft um herauszufinden, ob die Fische heute beißen. Der Hinweis auf ein Rechtsproblem war ein besonderes Lockmittel, das mir zu erkennen geben sollte, ob das Gesprächsinteresse dieser Frau über das übliche Geplänkel hinausging, das man so auf Fahrten erlebt. Die meisten Menschen werden von rechtlichen Auseinandersetzungen abgestoßen. Selbst ich kannte die Aversion bei juristischen Fragen, obwohl ich öffentliches Recht studierte. Und dies mit gutem Grund - denn von Menschen gesetztes Recht ist nicht weniger labil und zuverlässig als die Hohe See bei Sturm. Schon rechnete ich mit ihrem schnellen Rückzug aus dem spärlichen Dialog und wollte mich der Betrachtung der dahinfliegenden Landschaft zuwenden, als die Dame interessiert nachfragte:„Dann steht wohl ein Verfahren an? Geht es gar um ein Verbrechen?“

„Nein, nein“, wimmelte ich ab: „Es ist nicht Zivilrechtliches. Kein Strafprozess … Das Ganze hat mehr mit Öffentlichem Recht zu tun … Mit Staatsrecht und Völkerrecht… Aber auch mit Verbrechen.“

Letzteres irritierte etwas. Die Dame blickte mich daraufhin leicht verunsichert an, so als ob sie jetzt überhaupt nichts mehr verstünde. Sprach ich in Rätseln? Also musste ich deutlicher werden. „Es geht in der Tat um Verbrechen, um schwere sogar, wenn eklatante Menschenrechtsverstöße nicht als Kavaliersdelikt angesehen werden!“

„Ach so ist das!“ gab die Dame erleichtert zurück. „Dann sind sie wohl Anwalt, einer, der sich für humanitäre Angelegenheiteneinsetzt? Oder sind Sie gar politisch aktiv?“

„Nur im weitesten Sinne!“ antwortete ich betont reserviert, ohne rechte Lust, die Materie weiter vertiefen zu wollen: „Im Grunde bin ich nur ein Zeuge! Genauer gesagt ein Augen- und Zeitzeuge, der einige gesellschaftspolitische Entwicklungen und Geschehnisse beobachtet hat. Jetzt soll ich dabei behilflich sein soll, ein Rechtsverfahren einzuleiten, eine Klage auf den Weg zu bringen … “

Genaueres wollte ich eigentlich nicht preisgeben. Etwas sträubte sich im mir, über Persönliches, ja Intimes zu sprechen wie ein Exhibitionist. Weder mit eigenen noch mit fremden Leiden wollte ich hausieren gehen, indem ich großzügig Details offenlegte, weil ich befürchtete, nicht verstanden, ja missverstanden zu werden. Letzteres kränkte. Schließlich klagten nur Dichter, wenn sie litten, während Philosophen schwiegen. Ich aber war viel zu stolz, zu klagen – lerne Leiden ohne zu klagen, hatte ein weiser Mann einmal gesagt! Es war schwer, sich daran zu halten. Auch meine bisherigen Erfahrungen in der Open Society sprachen gegen zu viel Offenheit. In der Regel fehlte den meisten Menschen im Westen das Vorwissen, wenn spezifische und makropolitische Fragen erörtert wurden, die über die deutsche Tagesaktualität hinausgingen. Kaum einer im Westen wusste Näheres über der Welt hinter dem Eisernen Vorhang …

„Ein Menschenrechtsverfahren?“ wunderte sich die Dame. Ihr unbefriedigter Gesichtsausdruck stimmte mich wieder um und veranlasste mich, doch noch mehr zu verraten: „Es geht um eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung auf internationaler Ebene, die im Rahmen der Vereinten Nationen ausgetragen werden soll. Im Gespräch ist eine mögliche Klage gegen einen totalitären Staat im kommunistischen Machtbereich, im so genannten Ostblock, in welchem die Freiheiten und Rechte der Menschen mit den Füßen getreten werden. Sie soll von Genf aus auf den Weg gebracht werden. Oder, salopp gesprochen, es geht gegen die Regierung einer Diktatur. Dissidenz und angewandte Menschenrechte im Ostblock sind Schlagworte der Aktion“, fügte ich dann ergänzend hinzu, doch mehr verschleiernd als klarstellend, bemüht, eine nationale Festlegung zu vermeiden. Wer im aufgeklärten Okzident wusste schon etwas über Rumänien? Oder Näheres über die politischen Verhältnisse in jenem Land, das praktisch vor der Haustür lag und doch so fern war? Die tausend Kilometer über Wien und Budapest nach Temeschburg waren unendlich weiter als die gleiche Distanz in die Toskana, nach Lucca und Siena oder nach Avignon in der Provence. Selbst gebildete Menschen und Akademiker hatten Schwierigkeiten, osteuropäische Völker und ihre Sprachen auseinander zu halten. Ungarisch, Rumänisch, Russisch, Polnisch oder Serbokroatisch klang in ihren Ohren gleich fremd.

Für viele Westeuropäer waren Rumänen und Ungarn Slawen! Und die Bulgaren waren wohl jenes Volk, das in Voltaires Candide die Preußen verkörpert? Was hatte ich nicht alles vernommen in einem Jahr auf Reisen?

Der gesamte Osten Europas und die Sowjetunion wurden undifferenziert als ein großes unbekanntes Etwas wahrgenommen, als eine amorphe und zugleich monolithische Einheit, die dunkel war, fremd wirkte und bedrohlich!

Die Geschichte des russischen Imperialismus war genauso wenig bekannt wie die Auswirkungen des Stalinismus. Kurz, die Open Society kreiste selbstverliebt um das eigene Ich, während ihre ideologischen Feinde, die Karl Popper in den totalitären Phänomenen der Neuzeit Nationalsozialismus und Stalinismus ausgemacht hatte, fast schon in Vergessenheit geraten waren. Der eigene Egoismus im Wohlstand ersetzte das Gesamtverantwortungsbewusstsein für die Welt. Der freie Westen, die offene Gesellschaft Poppers, lebte ahistorisch denkend in einer eigenen Welt, hermetisch abgeschottet vom Schicksal der osteuropäischen Nachbarn, die durch politische Kurzsichtigkeit nach Jalta und Potsdam unverschuldet in die Sklaverei entlassen worden waren, ohne merken, dass die Welt der maximalen Freiheit und des Liberalismus bereits zur geschlossenen Gesellschaft verkommen war.

Der unbekannte Osten, wie der deutsche Diplomat Erwin Wickert und Botschafter in Bukarest eines seiner Bücher überschrieben hatte, war traurige Realität. Ja selbst der zweite deutsche Staat, die DDR, erst seit wenigen Jahrzehnten vom Mutterland abgetrennt, schien in Ignoranz getaucht und in Vergessenheit geraten zu sein, ungeachtet seiner Menschen und gewaltigen Kultur!

Meine Befürchtungen bestätigten sich erneut. Die Dame blickte mich noch länger mit großen Augen an, ohne noch allzu viel zu sagen. Hatte ich schon zu viel verraten?

„Ein Zeitzeuge sind Sie also - aber sie sind doch noch so jung?“ hakte sie später fast ungläubig nach.

„Die Zeit ist schnelllebiger geworden und die Jugend reifer, verehrte Frau“, erwiderte ich mit leichter Ironie. Es zeichnete sich bereits ab, dass wir bereits ausreichend konversiert hatten. Bald schweiften die Blicke der Lady ab und verharrten apathisch in der unbestimmten Weite der rheinischen Landschaft.

Ein weites Feld, dieser Ost-West-Dialog! Obwohl miteinander geredet wurde und übereinander, redeten manche aneinander vorbei.

„Schöner Tag, heute!“ hörte ich sie nach einer Weile noch so dahinsagen plätschernd wie ein Bach.

„In der Tat! Und prächtiges Wetter!“ bestätigte ich: „Die Vogesen sind ganz nah. Mit etwas Glück, können wir bis zum Ballon hinaufblicken.“


Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur



Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe


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