Mittwoch, 16. Januar 2013

Rhapsodie … in Moll


5. Satz: Rhapsodie … in Moll


 
                                                                                     Adagio

Freiburg


 

Ich war über Rottweil angereist und hatte noch etwas Zeit und Muße, ziellos durch die Altstadt zu schlendern und den Geist der Geschichte auf mich wirken zu lassen. Freiburg war nicht ganz so alt wie Rottweil, das als Arae Flaviae bereits im Jahr 73 nach Christi Geburt von den Römern gegründet worden war, dafür aber umso vielfältiger und interessanter. Die Geschichte war allgegenwärtig; jeder Zierbrunnen, jedes Bächle, jedes Gebäude des vom Buntsandstein dominierten Stadtkerns verwies auf ein anderes Jahrhundert. Der Lauf der Zeiten stand hinter dem pulsierenden Leben der Straße. Das alt ehrwürdige Universitätsgebäude, an dessen Front Jesus in lichtfunkelnden Goldlettern über die befreiende Wahrheit redete, erschien im gedämpften Tageslicht eines aufziehenden Gewitters tiefrot wie der Wein der Landschaft. Abgeschiedenheit suchend, ging ich zum Fluss hinunter, an das Ufer der Dreisam.

Es war eine kurze Flucht vor dem tobenden Lärm der Stadt im Hintergrund; ein wenig erholsames Eintauchen in die relative Einsamkeit des Ufers. Das monotone Rauschen des Wassers beruhigte trotzdem. Mein Blick streifte die Licht reflektierenden Wellen, die glitzerten wie die Aufschrift auf der Fassade der nahen Alma Mater, ohne ein Ziel zu finden; und das Ohr war erfüllt vom munter dahin plätschernden Nass des reißend schäumenden Flusses, der eigentlich nur ein kräftiger Wildbach war; ein Quell, der aus den Berghängen des Schwarzwaldes herunter schoss, wuchtig und kräftig wie neues Leben, das sich seine Bahn erobert. Panta rhei - ein altes Thema.

War ich an einem Denkort angekommen, wo schon andere Denker über die Tiefen des Seins und über den Urgrund des Wesens nachgedacht hatten? Über Phänomene, die unsere Existenz bestimmen und über die Grundfragen der Metaphysik, beginnend mit Parmenides und Heraklit? War überhaupt alles im Fluss? Gab es überhaupt ein Sein? Oder war alles nur ein Werden? Ein permanentes Neuwerden? Bestimmte uns die Dynamik der Natur oder die Statik der Festlegung?

Etwas vom Hauch der Vergänglichkeit, die einen befällt, wenn man melancholisch sinnend wie zarte Romantiker früherer Jahrhunderte in die Fluten blickt, wo alles wogt und schwindet, fühlte ich auch hier am schnellen Bach, der unweit im Rhein aufgehen sollte. Wie viel Wasser war in den letzten Jahren die Ströme hinab geflossen, während ich strampelte, die Donau hinab, die Rhone und den Rhein? Das flüchtige Wellenspiel beobachtend kam mir jenes philosophische Urgestein in den Sinn, den man im Alten Griechenland den Dunklen nannte. Meine Gedanken schwirrten ab in das Reich des Vergehens, zu Gryphius und Lenau in die Welt des Pessimismus und Nihilismus. Vanitas! Vanitatum vanitas! Und dann wieder über Goethes versöhnenden Geist zurück zu den sinnreichen Worten im Sandstein, deren Botschaft über unsere Zeitlichkeit hinauszureichen schien: Die Wahrheit wird euch frei machen. Literatur, Philosophie und Leben bildeten eine Einheit, ein Ganzes, in dem alles miteinander verwoben war und sinnstrukturiert zusammenhing. Auch nach Plötzensee und Auschwitz?

Die Zeit verrann im Nachdenken über das Sein in der Zeit. Nun musste ich weiter in Richtung Bahnhof. Am Universitätsbau angekommen, schritt ich, vorbei an den ehernen Giganten der Geistesgeschichte, die Treppe hoch bis in die Aula, wo Heidegger seinerzeit seine kontrovers diskutierte Rektoratsrede gehalten hatte. Der weite Raum war leer. Der große Geist war ihm entwichen. Wieder stand ich allein im Raum; allein mit meinen Gedanken, die erneut abschweiften - zurück zum Mythos, dann zum Logos, zu den Anfängen der Naturphilosophie, den vier Elementen und den vier Temperamenten; in die Exegese und Interpretation, zurück zu Hermes und Hermes Trismegistos - und schließlich wieder hinein in die hermetisch verklausulierte Welt jenes deutschen Professors von der Alb, der alles erhellen und zusammenführen sollte in der großen enigmatischen Synthese des Seins. Sein Geist schien doch noch irgendwie präsent zu sein und in einer verborgenen Aura weiter zu wirken. Etwas fühlte ich davon und verband damit einen Impuls, eine Aufforderung: wachsam zu sein und am Denken festzuhalten, fern der Metaphysik, doch dicht an der Existenz. Damit war ich wieder in meinem Element wie der Fisch im Wasser, in der Idemität und kosmischen Harmonie, die wiederum Voraussetzung ist für klares Denken und Handeln.

Nach den existentiellen Erfahrungen der letzten Jahre, die mich manchmal in den Grenzbereich von Leben und Tod gebracht hatten, glaubte ich einer zu sein, der wusste, was tatsächliches Existieren ist; was Geworfenheit, Sorge, Exponiertheit und was reell erlebte Grenzsituationen bedeuteten. Jaspers, Sartre und Camus sollten mir bald mit ihrem Denken dazu verhelfen, das Erlebte weiter gedanklich zu ordnen und die philosophische Tragweite des tatsächlich existentiell Erlebten in der Existenzerhellung besser erfassen und begreifen zu können. Inzwischen war ich bereit ihnen genau zuzuhören, um zu erfahren, wie sie - aus ihrem Elfenbeinturm heraus - die Freiheit sahen und das Leben.

Doch das war etwas, an dem die Außenwelt nicht teilnahm, ein elitäres Privatvergnügen, hinter dem sich nur das geistige Überleben eines Individuums in einer zutiefst ungeistigen Welt verbarg. Die Tatsachenwelt war eine andere. Hier und jetzt kam es nicht mehr darauf an, über das Leben philosophierend nachzudenken und Schlüsse zu ziehen; jetzt galt es, die tatsächlichen Herausforderungen der Existenz konkret zu bewältigen mit allen neuen Chancen und Risiken, die auf mich zukamen. Und in diesem Prozess verfolgte ich ein bescheideneres Ziel. Ich musste zum Bahnhof und jenen Zug finden, der mich über Basel nach Genf bringen sollte. Also sah ich nach der Zeit, verließ die kontemplative Welt höherer Sphären und eilte zu den Zügen.

 

 

Offener Ost-West-Dialog im Zug nach Genf – Schein oder Sein


 

Freiburg Hauptbahnhof. Der Zug nach Süden rollte ein. Gelassen stieg ich zu, suchte und fand auch gleich das, wonach ich in der Regel immer Ausschau hielt, wenn ich mit der Bahn unterwegs war: ein leeres Abteil, eine Stätte, wo man ungestört verweilen, Einkehr halten und die Innen- wie Außenwelt am besten erleben konnte. War das ein Glückstag? Vielleicht!

Mitreisende kann man sich ebensowenig aussuchen wie nahe Verwandte. Sie alle können aus einem geselligen Menschen einen Misanthropen machen. Schon deshalb suchte ich die Einsamkeit im Zug, die freiwillige Abgeschiedenheit; aber auch um über künftige Dinge nachzudenken, um zu lesen und dann, wenn ich müde werden sollte, ruhig die Landschaft zu beobachten, die auf dieser Fahrt recht abwechslungsreich zu werden versprach.

Obwohl ich schon seit einem guten Jahr im Westen lebte, bereits viel herumgereist war und auch schon manches gesehen hatte, interessierte mich immer noch alles, was an neuen Eindrücken auf mich zukam. Wer lange eingesperrt war wie ich, zunächst in einem großen Gefängnis und dann in einer kleinen Zelle, sieht vieles mit anderen Augen und genießt viele Dinge und Erscheinungen mit anderen Sinnen. Doch noch während ich im vorderen Zugbereich am Fenster sitzend und mit dem Blick in die Fahrtrichtung auf den Abpfiff wartete, war es mit der Selbstisolation vorbei.

Eine reifere Dame, die gerade an diesem Abteil Gefallen zu finden schien, schob die Tür zurück: „Ist hier noch ein Sitzplatz frei - und darf ich mich zu Ihnen setzen?“ fragte sie höflich, nachdem sie mich einige Sekunden kritisch gemustert hatte. Es war eine rhetorische Frage, eine Floskel; denn noch bevor ich etwas erwidern konnte, schickte sie sich bereits an, mir gegenüber Platz zu nehmen. Was konnte ich anderes tun, als ihr behilflich zu sein, die schwere Reisetasche zu verstauen.

Das Nachdenken war vorerst dahin und jede Konzentration. Allein die bloße Präsenz reichte aus, um meine Intimsphäre zu durchbrechen. Äußerlichkeiten drängten sich auf, ein penetrantes Maiglöckchenparfüm und das extravagant pastellfarbene Kostüm mit lindgrünem Hut. Madame Pompadour auf Reisen?

Das Aufdringlichste an der Diva, die der Siebzig wohl näher stand als der Sechzig, dies aber gut zu kaschieren wusste, war ihr überreicher Schmuck. Überhangen wie ein Weihnachtsbaum trug sie das Geschmeide über den ganzen Körper verteilt. Ein Kranz weißer  Perlen zierte den welken Hals und schweres Gold liftete die Ohren. Am Unterarm erkannte ich einige filigran gearbeitete Reifen aus Platin wie ich sie früher bei Zigeunern gesehen hatte, nur edler. Selbst an den Fingern führte sie noch ein kleines Vermögen mit sich, wuchtige gelbe Ringe, die zum Teil mit grünlichen Smaragden und blutrot funkelnden Rubinen besetzt waren. Bunte Steine erinnerten an Literatur und an die farbige Welt vor unseren Augen.

Geld schien in ihrem Leben keine besondere Rolle zu spielen - oder eine große Rolle? Überzeugt, der Mensch könne ohne jeden Luxus auskommen, wusste ich nicht viel über Edelsteine, noch über Geld.

War Zier wirklich notwendig? Waren diese Preziosen notwendige Accessoires der Frau, Kleinodien, die zu ihr gehörten und die jede Frau gerne haben wollte, weil sie das Wesen des Weiblichen ausmachten? Standen sie für innere Schönheit oder ersetzten die diese nur? Oder war der teure Plunder nur ein Signum des Wohlstands, ein beiläufiger Hinweis darauf, dass es einem gut ging? Doch das Betrachten der Steine, das fiel mir kaum auf, lenkte mich vom Studium des Menschen ab.

Viel Täuschung lag im Gefunkel. Wer genauer hinsah, erkannte hinter dem Rot der Rubine die geröteten Augen der Kinderarbeiter, die diese Steine unter Lebensgefahr aus den Tiefen der Anden hervorgeholt hatten. Was machte diese Steine also begehrenswert, die Seltenheit oder das blutige Opfer dahinter?

Erhöhten sie den sittlichen Wert des Menschen, der sie trug? Oder waren sie doch nur Elemente des Scheins, die vom wahren Sein ablenkten und irgendwo eine innere Leere verdeckten?

Vielleicht kompensierten sie auch nur verlorene Werte von einst, die Jugend vielleicht, oder die Schönheit? Reagierten Frauen anders auf die Verlockungen der Scheinwelt als wir Asketen? War Eva da anfälliger Adam? Noch war es wohl nicht gelungen, die Frau vom Schönen Schein abzubringen, vom Scheinen und von der Welt des Scheins, vom Drang nach Gold, nach fremden Düften und nach ganzen Eimern Schminke. Wo kein Selbst war, und das galt für beide Geschlechter, dort musste oft nachgeholfen werden - mit eitlen Tand. Und je mehr die natürliche Schönheit verblasste, desto deutlicher wurde kompensiert, um schön zu wirken, um die Begehrlichkeit zu steigern, auch wenn die Natur keine Eroberung mehr vorgesehen hatte.

Auge in Auge sitzend, musterten wir uns immer noch gegenseitig mit dem Misstrauen weit auseinander liegender Generationen, ganz so, als wollten wir uns einen ersten Eindruck verschaffen, wer es mit wem zu tun hat. Worüber hätten wir uns unterhalten können? Über geschlechtsspezifische Unterschiede - auch in der Wahrnehmung der Welt? Über das Elend, aus dem ich kam und über das vielfache Leiden, das ich mit angeschaut hatte?

Bestimmt nicht! Wie der Mann, der anders denkt und anders programmiert ist, die Frau nicht ganz versteht, so hätte die Dame meine Sicht der Dinge wohl kaum verstanden. Ob sich meine Verachtung der Materie in einem entsprechenden Blick niederschlug? Eher nicht! Die Aura blieb von einer gegenseitigen Freundlichkeit, ja Sympathie bestimmt. Selbst das kräftige Maiglöckchenparfüm, dessen Duft inzwischen den gesamten Raum einnahm, schien irgendwann erträglich; verdrängte es doch den lästigen Tabakqualm, der sich in allen Sitzen und Ritzen des Abteils eingenistet hatte.

Ein gütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Worüber sie wohl nachdachte? In einen besseren Anzug geklemmt, am Hals eine eng geschnürte Krawatte, die meine Atemfreiheit etwas einschränkte, saß ich da - ein Handlungsreisender in Sachen Freiheit. Mein Frisör hatte die wilde Studentenmähne gerade noch etwas zurück geschnitten, den struppigen Vollbart gekürzt und den Wildwuchs der Augenbrauen eingedämmt. Damit war ich, wie es der Figaro später auszudrücken pflegte, entwaigelt und somit salonfähig für den Eintritt in die bessere Gesellschaft des mondänen Genf. Immer wenn eine höhere Mission anstand und ich auf Reisen ging, an die Seine, an die Themse, an die Isar, an die Spree oder wie jetzt, an den Genfer See, war oft eine äußerliche Verwandlung angesagt, ein Herauspolieren und Fitmachen für die bessere Gesellschaft. Homo sum? Weit gefehlt! In der feineren Welt zählte der erste Eindruck - das Akzidens, nicht die Substanz. Proteus gleich, musste der rebellische Student, innerlich schizophren aufgespalten zwischen Jekyll und Hyde, auch nach außen zum Gentleman metamorphosieren, mutieren, wollte er seinen Auftrag nicht zu gefährden. Keinesfalls durfte ich unglaubwürdig erscheinen, bevor das Testimonium abgelegt war. Das waren die Spielregeln der freien – an sich schon geschlossenen - Gesellschaft, an die sich auch ein Aufmüpfiger zu halten hatte - das ist die Macht der Konvention, auch heute: Die Gewichtung der Erscheinung geht der Wucht des wahren Wortes voraus wie das Vorurteil dem Urteil vorauseilt - und der Schein dem Sein!

Will die Welt betrogen sein?

Vieles deutet darauf hin. Minuten vergingen. Keiner sagte ein Wort. Die Landschaft bewegte sich wie auf einer Kinoleinwand. Und das Kleinhirn ließ sich wieder täuschen. Täuschung überall, auch dort, wo Erkennen vermutet wird? Freiburg lag hinter uns. Der Zug wurde schneller.

„Sie sind sicher geschäftlich unterwegs?“ tastete sich die Dame sondierend an mich heran, nachdem der Zug bereits volle Fahrt aufgenommen hatte.

„Teils, teils“, antwortete ich nebulös ausweichend, da das mit den Geschäften nicht wirklich zutraf.

Geschäfte! Welch eine Umschreibung für die anstehenden Aufgaben? Der Sozialismus hatte seinen undifferenzierten Sprachgebrauch, seine Floskeln; und die kapitalistische Welt die ihre. Und auf beiden Seiten verwies die uneigentliche Sprache auf die Uneigentlichkeit der Existenz.

Jetzt aber galt es den Kopfgeburten Einhalt zu gebieten und das unselige Psychologisieren einzustellen, bevor aus der Zugfahrt ein moderner, aphorismenstrotzender Roman wurde. Nur: Philosophen denken anders und schreiben anders, auch wenn sie als ehemalige Dissidenten unterwegs sind.

„Sie wollen mir nichts verraten, das merke ich schon …“ lächelte sie süffisant und wollte sich gerade abwenden, als meine nachhinkenden Worte sie in die kaum erst aufkommende Kommunikation zurückholten: „Nach Genf will ich … in einer rechtlichen Angelegenheit …“ ergänzte ich dann nach einigen Sekunden des Abwartens lässig und mit halber Stimme, einem Angler gleich, der einen Köder auswirft um herauszufinden, ob die Fische heute beißen. Der Hinweis auf ein Rechtsproblem war ein besonderes Lockmittel, das mir zu erkennen geben sollte, ob das Gesprächsinteresse dieser Frau über das übliche Geplänkel hinausging, das man so auf Fahrten erlebt. Die meisten Menschen werden von rechtlichen Auseinandersetzungen abgestoßen. Selbst ich kannte die Aversion bei juristischen Fragen, obwohl ich öffentliches Recht studierte. Und dies mit gutem Grund - denn von Menschen gesetztes Recht ist nicht weniger labil und zuverlässig als die Hohe See bei Sturm. Schon rechnete ich mit ihrem schnellen Rückzug aus dem spärlichen Dialog und wollte mich der Betrachtung der dahinfliegenden Landschaft zuwenden, als die Dame interessiert nachfragte: „Dann steht wohl ein Verfahren an? Geht es gar um ein Verbrechen?“

„Nein, nein“, wimmelte ich ab: „Es ist nicht Zivilrechtliches. Kein Strafprozess … Das Ganze hat mehr mit Öffentlichem Recht zu tun … Mit Staatsrecht und Völkerrecht … Aber auch mit Verbrechen.“

Letzteres irritierte etwas. Die Dame blickte mich daraufhin leicht verunsichert an, so als ob sie jetzt überhaupt nichts mehr verstünde. Sprach ich in Rätseln? Also musste ich deutlicher werden. „Es geht in der Tat um Verbrechen, um schwere sogar, wenn eklatante Menschenrechtsverstöße nicht als Kavaliersdelikt angesehen werden!“

„Ach so ist das!“ gab die Dame erleichtert zurück. „Dann sind sie wohl Anwalt, einer, der sich für humanitäre Angelegenheiten einsetzt? Oder sind Sie gar politisch aktiv?“

„Nur im weitesten Sinne!“ antwortete ich betont reserviert, ohne rechte Lust, die Materie weiter vertiefen zu wollen: „Im Grunde bin ich nur ein Zeuge! Genauer gesagt ein Augen- und Zeitzeuge, der einige gesellschaftspolitische Entwicklungen und Geschehnisse beobachtet hat. Jetzt soll ich dabei behilflich sein soll, ein Rechtsverfahren einzuleiten, eine Klage auf den Weg zu bringen … “

Genaueres wollte ich eigentlich nicht preisgeben. Etwas sträubte sich im mir, über Persönliches, ja Intimes zu sprechen wie ein Exhibitionist. Weder mit eigenen noch mit fremden Leiden wollte ich hausieren gehen, indem ich großzügig Details offenlegte, weil ich befürchtete, nicht verstanden, ja missverstanden zu werden. Letzteres kränkte. Schließlich klagten nur Dichter, wenn sie litten, während Philosophen schwiegen. Ich aber war viel zu stolz, zu klagen – lerne Leiden ohne zu klagen, hatte ein weiser Mann einmal gesagt! Es war schwer, sich daran zu halten. Auch meine bisherigen Erfahrungen in der Open Society sprachen gegen zu viel Offenheit. In der Regel fehlte den meisten Menschen im Westen das Vorwissen, wenn spezifische und makropolitische Fragen erörtert wurden, die über die deutsche Tagesaktualität hinausgingen. Kaum einer im Westen wusste Näheres über der Welt hinter dem Eisernen Vorhang …

„Ein Menschenrechtsverfahren?“ wunderte sich die Dame. Ihr unbefriedigter Gesichtsausdruck stimmte mich wieder um und veranlasste mich, doch noch mehr zu verraten: „Es geht um eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung auf internationaler Ebene, die im Rahmen der Vereinten Nationen ausgetragen werden soll. Im Gespräch ist eine mögliche Klage gegen einen totalitären Staat im kommunistischen Machtbereich, im so genannten Ostblock, in welchem die Freiheiten und Rechte der Menschen mit den Füßen getreten werden. Sie soll von Genf aus auf den Weg gebracht werden. Oder, salopp gesprochen, es geht gegen die Regierung einer Diktatur. Dissidenz und angewandte Menschenrechte im Ostblock sind Schlagworte der Aktion“, fügte ich dann ergänzend hinzu, doch mehr verschleiernd als klarstellend, bemüht, eine nationale Festlegung zu vermeiden. Wer im aufgeklärten Okzident wusste schon etwas über Rumänien? Oder Näheres über die politischen Verhältnisse in jenem Land, das praktisch vor der Haustür lag und doch so fern war? Die tausend Kilometer über Wien und Budapest nach Temeschburg waren unendlich weiter als die gleiche Distanz in die Toskana, nach Lucca und Siena oder nach Avignon in der Provence. Selbst gebildete Menschen und Akademiker hatten Schwierigkeiten, osteuropäische Völker und ihre Sprachen auseinander zu halten. Ungarisch, Rumänisch, Russisch, Polnisch oder Serbokroatisch klang in ihren Ohren gleich fremd.

Für viele Westeuropäer waren Rumänen und Ungarn Slawen! Und die Bulgaren waren wohl jenes Volk, das in Voltaires Candide die Preußen verkörpert? Was hatte ich nicht alles vernommen in einem Jahr auf Reisen?

Der gesamte Osten Europas und die Sowjetunion wurden undifferenziert als ein großes unbekanntes Etwas wahrgenommen, als eine amorphe und zugleich monolithische Einheit, die dunkel war, fremd wirkte und bedrohlich!

Die Geschichte des russischen Imperialismus war genauso wenig bekannt wie die Auswirkungen des Stalinismus. Kurz, die Open Society kreiste selbstverliebt um das eigene Ich, während ihre ideologischen Feinde, die Karl Popper in den totalitären Phänomenen der Neuzeit Nationalsozialismus und Stalinismus ausgemacht hatte, fast schon in Vergessenheit geraten waren. Der eigene Egoismus im Wohlstand ersetzte das Gesamtverantwortungsbewusstsein für die Welt. Der freie Westen, die offene Gesellschaft Poppers, lebte ahistorisch denkend in einer eigenen Welt, hermetisch abgeschottet vom Schicksal der osteuropäischen Nachbarn, die durch politische Kurzsichtigkeit nach Jalta und Potsdam unverschuldet in die Sklaverei entlassen worden waren, ohne merken, dass die Welt der maximalen Freiheit und des Liberalismus bereits zur geschlossenen Gesellschaft verkommen war.

Der unbekannte Osten, wie der deutsche Diplomat Erwin Wickert und Botschafter in Bukarest eines seiner Bücher überschrieben hatte, war traurige Realität. Ja selbst der zweite deutsche Staat, die DDR, erst seit wenigen Jahrzehnten vom Mutterland abgetrennt, schien in Ignoranz getaucht und in Vergessenheit geraten zu sein, ungeachtet seiner Menschen und gewaltigen Kultur!

Meine Befürchtungen bestätigten sich erneut. Die Dame blickte mich noch länger mit großen Augen an, ohne noch allzu viel zu sagen. Hatte ich schon zu viel verraten?

„Ein Zeitzeuge sind Sie also - aber sie sind doch noch so jung?“ hakte sie später fast ungläubig nach.

„Die Zeit ist schnelllebiger geworden und die Jugend reifer, verehrte Frau“, erwiderte ich mit leichter Ironie. Es zeichnete sich bereits ab, dass wir bereits ausreichend konversiert hatten. Bald schweiften die Blicke der Lady ab und verharrten apathisch in der unbestimmten Weite der rheinischen Landschaft.

Ein weites Feld, dieser Ost-West-Dialog! Obwohl miteinander geredet wurde und übereinander, redeten manche aneinander vorbei.

„Schöner Tag, heute!“ hörte ich sie nach einer Weile noch so dahinsagen plätschernd wie ein Bach.

„In der Tat! Und prächtiges Wetter!“ bestätigte ich: „Die Vogesen sind ganz nah. Mit etwas Glück, können wir bis zum Ballon hinaufblicken.“


 
 
 

Grenzland am Rhein - Le Linge


 

Das Gespräch versiegte, noch bevor ich den Diktator beim Namen genannt oder über Widerstand und Dissidenz gesprochen hatte. Zwischen Orient und Okzident klaffte die Leere, eine Kluft, die nach einem Diwan verlangte, nach einer Brücke und nach einer Versöhnung der Spaltung.

Meine Gedanken schweiften ab, hinauf in die Gipfelhöhen der Vogesen. Dort oben, am Hartmannswilerkopf und bei Le Linge lagen mehrere Zehntausend Tote aus dem Ersten Weltkrieg; aus jenem Krieg, den die Franzosen den Großen nennen. Sinnlos geopferte Menschen, in blühenden Jahren vom Wahnsinn patriotischer Pflichterfüllung hinweg gerafft. Die Senfgasbomben rosteten Leben bedrohend im Boden vor sich hin. Vernichtungswaffen! Eine Pest der Neuzeit! Daran wollte ich jetzt nicht weiter denken.

Aufkommende Müdigkeit vortäuschend, lehnte ich mich diskret zurück und genoss von meinem bequemen Fensterplatz aus die wechselvollen Farben des Rheintals, die flüchtig an den Pupillen vorüber huschten. Die Dame antwortete nicht mehr. Sie saß da, lächelte in sich gekehrt und schwieg.

Mein Blick erstarrte ebenfalls. Die Landschaft bewegte sich vor den Augen als Bilderfolge. Manches, was anders war in diesem Dreiländereck, wo drei alte Kulturen ineinander übergehen, ohne dass die Grenze noch etwas Trennendes hätte, drängte sich auf.

Ein extrem kultiviertes Land: Spargellandschaften mit schuftenden Menschen und lindgrünen Tabakkulturen, üppig gedüngte Maisfelder und strohbedeckte Erdbeerplantagen bis zum Horizont hin, wo sich gut erkennbar die Gipfel des Hochschwarzwalds auftürmten, der Belchen, dahinter der Feldberg und etwas abgelegen in einsamer Höhe Todtnauberg - einst ein Denkort!

Vermutlich herrschte gerade eine Art Föhn. Der mich kurz durchzuckende, migräneartige Kopfschmerz deutete darauf hin. Jetzt kamen Ausläufer des Kaiserstuhls in Sicht; ein frühzeitliches Vulkansteingebilde mit flurbereinigter Terassenarchitektur und rebenüberwachsenen Hängen. Der Spätburgunder soll hier gut gedeihen. Ganz oben auf dem Dach des Hügels türmte sich ein Kirchlein auf, das an die himmelan stürmende Kapelle oben auf der Alb bei Wurmlingen erinnerte, die schon von Uhland und Lenau besungen worden war.

Eine Kopfwendung nach links - dort lag an einem Rebhügel mit historischer Ruine Staufen; jene liebliche Kleinstadt an der Einfahrt zum Münstertal, wo man aus heimischen Kirschen ein Lebenswasser destilliert und wo der leibhaftige Teufel einst den weltbeschreyten Zauberkünstler Faustus so an die Wand schlug, dass sein von Hybris durchdrungenes Gehirn auf dem Misthaufen landete.

Vis-à-vis von Staufen, am Flughafen Eschbach stiegen gerade mit einem ohrenbetäubendem Lärm, der selbst das Rauschen des Intercitys übertönte, gerade drei moderne Kampfjets in den Himmel, den Kalten Kriegern in Moskau die angemessene Wehrfähigkeit der Republik andeutend - para bellum!

Auf politischer Bühne hatte der Bundestag mit sozialliberaler Mehrheit unter Kanzler Schmidt den Nato-Doppelbeschluss fast schon umgesetzt und dafür gesorgt, dass die Pershing-Raketen der Amerikaner unweit meines Heimatdomizils bei Mutlangen im Remstal in ihren Silos blieben. Strategie der flexible response nannte man das damals. Die NATO igelte sich ein, setzte auf Stärke und Wettrüsten, Tag und Nacht bereit, im Aggressionsfall aus dem Osten die Welt in Schutt und Asche zu legen.

The Day After, ein apokalyptischer Streifen aus Hollywood, machte uns allen bewusst, in welcher Gefahr wir lebten. Ein paar Wildgänse konnten uns zum Verhängnis werden! Doch in der NATO-Zentrale im belgischen Casteau, wohin unser dozierender General Jürgen Bennecke eingeladen hatte, wurde weiterhin Süßholz geraspelt. Der Status war unverändert wie die klirrend starre Kälte auf den Gipfeln links und rechts. Eiszeit.

Symbole überall - die Welt war voller Sinnbilder und, wie Nietzsche meinte, immer noch ohne Sinn. Mich faszinierte die Harmonie dieses warmen Landstrichs, in dem alles üppiger gedieh als sonstwo in Deutschland, auf eine Kulturlandschaft blickend, die mir später, als liebe Freunde hier eine zweite Heimat fanden, noch familiärer werden sollte.

Erwin nahm hier seinen Wohnsitz, mein langjähriger Freund und Streitkumpan aus der Zeit der Dissidenz; und Dietlinde, das Nachbarsmädel, mit dem ich als Kleinkind auf dem Misthaufen gespielt und den ersten Hühnerdreck verkostet hatte; ferner andere nette Menschen aus dem Banat, die bereits Teil meiner Biographie geworden waren. Irgendwann wollte ich selbst einmal hier im Freiburger Land länger die Zelte aufschlagen, ganz unten vielleicht, an der unmittelbaren Grenze zur Schweiz und zu Frankreich - als Grenzgänger in der Dauer-Grenzsituation, in der ich mich sowieso immer befunden hatte.

Der Zug rauschte nun schneller werdend auf eben diese Grenzen zu. Ein Blick nach rechts an das andere Rheinufer - dort lag als Klotz in der Landschaft die Idylle von Fessenheim, ein Kraftwerk der Sonderklasse aus grauem Beton, das beeindruckte, weil es makaber wirkte; eine Meisterleistung französischer Ingenieurskunst im Hochtechnologiesektor.

Vom Rhein war nichts zu sehen. In seinem Bett dahinsausend kam das Grenzland näher. Noch ein letzter Blick in die Lörracher Gegend. Die Konturen einer Burgruine, die es hier im badischen Rheintal häufig gibt, deuteten sich an. Vielleicht war es ein altes Raubritternest, strategisch postiert über der hohlen Gasse, aus der Zeit eines Götz von Berlichingen, wo das Wegelagerertum, das heute von Institutionen und Staaten betrieben wird, noch ein redlicher Beruf war? Und das Wort von Geld oder Leben noch konkret nachvollzogen werden konnte. Inzwischen war das Geleitrecht abgeschafft bis auf die Mautgebühr; und die Beutelschneider waren tiefer nach Süden abgewandert, über den nahen Hotzenwald hinaus in verborgene Klüfte und Täler oder auf lichte Burgen, wo sie sich immer noch jenseits von Ethos un Recht den modernen Zeiten anzupassen wussten. Die alten Tage räuberischer Ritter waren verrauscht, währen die Sitten blieben. Die Welt von Vor -Gestern wirkte nur verschwommen im Bewusststein nach wie die Geschichten vom Räuber Hotzenplotz und die Landschaft am Schienenrand, die nie richtig erfasst werden konnte.

 
 
 


Frankreich!


 

Schilder auf der rechten Seite verwiesen auf Mühlhausen, auf das blumengeschmückte Elsass am Fuße der Vogesen, auf heimatlich empfundene Rosen, Schwalben, Störche - und auf das welsche Hinterland mit seinem derben Münster-Käse, der gut zum Traminer passt.

Frankreich!

Das war für mich zu keinem Zeitpunkt das Land des Erbfeindes, sondern stets ein ganz besonderer Teil der Erde, ein Arkadien, wo selbst Götter sich wohl fühlten:  ubi bene, ibi patria - diesen Vorwurf hatte ich schon als Gymnasiast erdulden müssen.

Jetzt reiste ich wahrlich am Garten Eden vorbei, auf dem Grenzstreifen zweier Vaterländer. Frankreich galt immer schon als das Land der Sensualisten und Epikureer! Weit darüber hinaus - war es für mich ein Land der Sehnsucht! Das Land der Freiheit!

Viel von meiner geistigen Heimat lag dort verborgen, wurzelte dort - wie fernes lothringisch-elsässische Blut auch durch meine Adern floss, Franzosenblut und Wahlfranzosenblut!

Frankreich war eine Heimat, die ich als Ideal aufrechterhielt, ohne sie ganz genau überprüfen zu wollen - aus Angst vor endgültiger Desillusion.

Der Mensch braucht ein letztes geistiges Refugium, auch im Irdischen.

Dieses Asylum war für mich Frankreich!

Denn auch ich war ein später Frankreichbegeisterter aus der langen Reihe vieler Deutscher durch die Geistesgeschichte; und dies lange nach Heine, der seinen Traum träumte wie vom fernen Elysium.

Frankreich war jenes Fleckchen Erde außerhalb Deutschlands, wo ich mich am wohlsten fühlte, noch besser als im jenem sonnigen Land, wo die Goldorangen blühen. Hatten die Rumänen vielleicht auch mich angesteckt mit ihrer Paris-Begeisterung?

Bestimmt nicht! Viel weiter unten warteten südlichere Gefilde, die Gärten der Hesperiden - das blühende Eden, mein neues Arkadien: die Provence!

Doch diesmal wollte ich geradeaus.

Den Rütli-Schwur in den Ohren, dessen aufwühlender Klang und dessen solidarische Botschaft mich seit meiner Kindheit nicht mehr verlassen hatten, passierte ich die Grenze jener Alpenrepublik, die es geschafft hatte auch gegen höchsten Druck ihre Neutralität und Freiheit zu wahren.





 

Felix Helvetia – Geld und Freiheit! Oder?


 

Es war ein gutes Gefühl, in die Schweiz einzureisen. Sie stand für heimatliche Geborgenheit, für eine märchenhafte Kulisse unverfälschter Natur, für ein letztes Stück vom Elysium, für die noch heile Welt des archaischen Menschen in Goldenen Zeitalter, als weiteres Wunschbild neben Frankreich, dessen Idealität sich in den Jahren meiner Kindheit bei der Heidi-Lektüre ausgebildet hatte. Ferner war die Schweiz in meiner von Schiller geprägten Vorstellung ein freiheitliches Land; ein Hort direkter Demokratie und ein Staat im Herzen Europas, der über Jahrhunderte die staatspolitische Kunstfertigkeit entwickelt hatte, sich aus übergreifenden Konflikten herauszuhalten, selbst aus den verheerenden letzten Weltkriegen, die das Gesicht des Alten Kontinents veränderten. Die Vereinten Nationen und viele andere internationale Organisationen residierten nicht zufällig in der Schweiz.

Voltaire, der große Freigeist seiner nicht immer aufgeklärten Zeit, hatte es einst von Genf aus der Welt vorgemacht, wie man als Freidenker und selbstbestimmtes Individuum zwischen zwei Staaten gut existieren kann, ohne den hohen Wert, die Freiheit, preisgeben zu müssen.

Und Rousseau, der Bürger von Genf, wurde nie müde, der Menschheit zu sagen, was Freiheit wirklich ist.

Unweit von mir flatterte ein weißes Kreuz auf rotem Hintergrund im Wind und weckte alte Erinnerungen und vielfältige Assoziationen. Erinnerungen, denen ich mich jetzt nicht hingeben wollte. Nicht zum ersten Mal bereiste ich dieses kleine Land. Doch was hatte ich bisher von der Alpenrepublik gesehen? Nicht viel. Die berühmte Stiftsbibliothek in Sankt Gallen, die man nur in Filzpantoffeln betreten darf, mit ihrem blitzblanken Intarsienparkett und ihren alten Folianten. Dann Zürich, die Stadt an der Limmat, wo es mehr Bankhäuser gibt als Gotteshäuser, Synagogen und Tempel - und wo auch die Verlagshäuser nicht mehr das sind, was sie einstmals waren.

„Habt ihr denn auch genügend Fränkli dabei?“ hatte der Kreuzlinger Zöllner vorsichtig gefragt, als ich als angehender Abiturient, eher abgebrannt als vornehm, kaum ein Jahr zuvor die Grenze überschritt, um mit Freunden in Zürich meinen einundzwanzigsten Geburtstag zu feiern.

War Geld immer noch das Maß aller Dinge? Oder war es der Mensch, in der Schweiz und über die Alpenrepublik hinaus? Hatte Protagoras, der Sophist, für den der Mensch den Mittelpunkt des Kosmos darstellte als das Paradigma und Maß aller Werte, aus früher Einsicht heraus gerade deshalb als erster einen angemessenen Obolus für seine geistreichen Sophismen gefordert?

Geld oder Freiheit!

Entweder - Oder? Das war hier die Frage. Schweizer Dialektik? Wie hätte Hegel sich dazu  geäußert oder nach ihm Kierkegaard?

Ein altes Thema! Wer bedingt was? Literaten von Weltruf hatten darauf geantwortet. Dostojewski, der spielende Schriftsteller, sah im Geld ein Mittel zur Freiheit, zur schöpferischen Unabhängigkeit, während der nicht weniger freiheitliche, zugleich aber auch anarchische Tolstoj Geld und Besitz als neue Formen der Sklaverei wertete. Beiden Auffassungen konnte ich, der verurteilte Freiheitskämpfer und Anarchist, gerne zustimmen.

Ambivalenz lag immer in der Luft, auch hier und jetzt. Das Entweder vernahm ich kaum, dafür aber immer öfter ein deutliches: Oder? Das Wesen des Fragens und des Rückfragens wurzelte in diesem einen Wort – und das Prinzip des Anderen, der Alternative als Frage und Antwort – die andere Seite und die andere Individualität, die Freiheit bedeutete.

Während der Zug auf schweizerisches Territorium fuhr, richtete sich mein neugieriger Blick diesmal auf die wenig einladende, durchaus nicht romantische Güterbahnhofskulisse zwischen Weil am Rhein und Basel. Eine Art Niemandsland machte sich dort breit, ein postindustrielles waste land inmitten der teuren Kulturlandschaft, an deren Horizont die Betonburgen der Basler Großkonzerne in Erscheinung traten. Ein Firmenlogo drängte sich auf. Nahezu jeder kannte diese Marke aus dem Supermarkt. Senf wurde hier produziert und Mayonnaise in Mengen, die ganz Europa zuschütten konnten. Weltraumtechnik hatte ich hier erwartet! Laser- und Nanotechnologien, Feinmechanik, Siliziumscheiben, doch keine mittelalterlichen Mixturen, die an die Anfänge der Alchemie erinnerten. Mich verblüffte die Einfachheit des Geschäftsmodells, und wie geschickt es einzelnen Lebensmittelgiganten gelang, mit wenigen elementaren Grundsubstanzen, mit ein paar Senfkörnern, Sonnenblumenöl und Flüssigei, dank eigener Ingeniosität Produkte der Alltagsernährung herzustellen, die Milliardenumsätze einbrachten. Die moderne Müllverbrennungsanlage weiter oben arbeitete nach einem vergleichbaren Prinzip.

Die Schweiz - das war natürlich auch die Welt der Konditoren und der feinen Schokolade in allen denkbaren Formen und Geschmacksrichtungen. Schokolade war eine Leidenschaft - meine älteste Leidenschaft. Mit dieser Passion war ich aufgewachsen, fern vom tatsächlichen Leiden. Aus ihr bezog ich die Endorphine, die früh beglückten und linderten.

Schokolade! Die Kindheit hindurch hatte ich sie täglich getrunken, tiefbraun mit viel Kakao und Zucker. Und irgendwann, als mir die ewigen Versprechungen der Mutter zu dumm wurden, kochte ich sie mir selbst aus Milchpulver und Butter zum Baton; zunächst eklig, schwarz verbrannt mit Schweineschmalz; doch dann immer vollkommener zum wahren Lebenselixier. Sie war meine Droge, mein Element, mein irdischer Genuss. Ein Griff zum Koffer - und schon konnte ich ein hauchdünnes Täfelchen auf der Zunge zergehen lassen.

Die Augen ruhten nicht, während der Zug langsamer wurde. Es gab viel zu sehen und einige Hinweise auf die Ästhetik des Hässlichen, die aus der Bücherwelt in die Realität entflohen schien. In die Industrielandschaft hinein gewoben entdeckte ich die wenig geschmackvollen Zweckbauten der Pharmariesen, die nicht nur der Apotheker kennt. Jene anonymen Gesellschaften, die selbst das türkisfarben schimmernde Wasser des Rheins einfärben; modernistisch rosarot - wie die Farbe des Himmels in der Morgenröte oder beim Alpenglühen - und so lange, bis die Fische im Rhein die Orientierung verlieren, sich treiben lassen und mit dem Strom schwimmen.

Doch auch hier ging man mit der Zeit und passte sich ihren Bedürfnissen an. Auch wenn das etwas kostete. Wie bei jenem augenlosen Koloss aus Stahl. Ein Gestaltungskünstler hatte viel Lindgrün eingesetzt, um eine der Monsterhallen ohne Struktur und Fenster optisch zu entschärfen; eine unverkennbare Handschrift. Weiter südlich lagen die profanen Betriebsstätten der tatsächlichen Farbenhersteller und Spezialchemiker, die dafür sorgten, dass der Westen glänzend leuchtet; und dass die Welt des Kapitals sich hoffnungsvoll strahlend abhebt vom düsteren Grau sozialistischer Alltagswelt.

Weiter südlich, im Innenstadtbereich, nahe der berühmten Kunsthalle, ragten die Monumentalresidenzen der Großbanken empor; auf schweren Säulen und soliden Fundamenten, in deren tiefen Kellern andere Werte ruhen. Ihre Unerschütterlichkeit suggerierte Stabilität und Beständigkeit. Das waren Herzkammern des Kapitalismus, keine altmodische Banken aus der Welt von Gestern, sondern Dienstleister der Neuzeit, deshalb auch neudeutsch money center genannt. Dort wird viel vom Vermögen der Welt verwaltet, das nach wie vor ungleich verteilt ist. Das irritierte mich, doch nur für Augenblicke.

Jeder Diktator von Welt, der etwas auf sich hält, hat hier mittelbar oder unmittelbar einige Konten und lässt sein Kapital professionell verwalten - und manchmal, behaupten böse Zungen, solange waschen, bis es schneeweiß wird wie das weißeste Weiß der Inuit oder wie der in ewiges Eis gehüllte Gipfel des Mont Blanc. Schließlich gilt die Schweiz als sauberes Land; und als ein pragmatisches noch dazu, das äußerst gekonnt auch die paar braunen Flecken auf der historischen Weste weg zu retuschieren weiß.

Von der Professionalität schweizerischer Finanzexperten profitierten immer schon viele, jenseits von Ethos und Moral. Kommunistische Machthaber, die nach willkürlicher Despotenart ihre Staaten ausplündern, um Familienclans zu versorgen ebenso wie korrupte Minister aus Entwicklungsländern, die ihre kaum empfangene Entwicklungshilfe gleich auf die richtigen Nummernkonten umbuchen lassen oder steinreiche Wüstenbewohner aus der Golfregion, deren restriktive Geldverleihhürden im Koran geschickt umschifft werden. Auch sie wissen die Vorzüge des Finanzplatzes Schweiz und die sprichwörtliche Stabilität des Schweizer Frankens zu schätzen. Die meisten der traditionellen Kunden der Vermögensverwalter sind Jahre nach ihren Investments oftmals wesentlich reicher als vorher. Andere, die das Wegelagerertum und die Beutelschneiderei der Börsenwelt nicht recht durchschauten, fallen schnell auf das materielle Durchschnittsniveau ihres Entwicklungslandes zurück.

Wer fragte da nach Transparenz? Wirtschaftsethische Gedanken sausten durchs Gehirn, Zusammenhänge von Recht und Gerechtigkeit. Dostojewski oder Tolstoi? Pflichtethik oder Anarchie?

Durfte ich um Prinzipien besorgt sein? Was scherte mich im Augenblick das Geld anderer Leute - oder die Philosophie des Geldes, über die einst ein deutscher Professor ein ganzes Buch geschrieben hatte? Was hätte mir eine moralisch ausgerichtete Kapitalismuskritik mehr eingebracht als Aufregung und Ärger über materielle Strukturen, mit denen ich im gesamten Westen leben musste? Und was konnte ich gerade jetzt gegen die ausweglose Situation der meisten Menschen in der Dritten Welt tun, die mit einer Hand voll Reis über den Tag zu kommen versuchten?

Die Schweiz, irgendwo ein Spiegelbild der Welt, verwies in ihrer Ambivalenz auf einen inneren Zwiespalt, auf einen krassen Konflikt, der die gesamte Welt durchzieht. Arm und unfrei, reich und mächtig? Die Freiheit des Kapitals ist oft der Quell chronischer Ungerechtigkeit - weltweit. Und die kapitalbestimmten Strukturen sind Hemmnisse der Freiheit. Doch das sah ich damals noch nicht so klar. Schließlich verfolgte ich zunächst andere Prioritäten. Zielsetzungen, an deren Erfolg ich durch eigenes Mitwirken teilhaben konnte. Für mich kam es vorerst primär darauf an, den bereits ausgemachten Feind zu bekämpfen, das totalitäre Machtsystem im fernen Bukarest; dieses vom Westen aus dort zu bekämpfen, wo es real existierte - jedoch nicht an sich oder aus einer ideologischen Motivation heraus, sondern im Interesse der Menschen, die noch im Kerker verharrten. Das war mein Gebot der Stunde.

 

 

Unter Basilisken – Kreuz und Kreuz-Gang


 

Trotzdem nutzte ich das Umsteigen in Basel, um in einer Pause wenigstens etwas von der bedeutenden Stadt zu sehen. Mein erster Weg führte natürlich zur weltbekannten Kunsthalle, die ich immer schon hatte sehen wollen. Doch diesmal beschränkte ich mich noch strenger als in Paris und London nur auf die architektonische Kulisse, auf den Bau und das Foyer, ohne für die wertvollen Exponate in den Ausstellungsräumen Zeit zu finden. Erst kam die Pflicht und dann irgendwann auch Kür und Muße. Danach steuerte ich Basels Zentrum an, durchstreifte Teile der Altstadt, die ursprünglich und intakt wirkte, weil hier keine Brandbomben niedergegangenen waren. Am Markt aß ich eine Bratwurst und betrachtete ganz nebenbei die in prallstes Rot getauchte Fassade des Rathauses der freiheitlichen Bürgerstadt, deren Wappenträger zu meiner großen Verwunderung ein Basilisk ist. Auf Basilisken reagierte ich wie auf Rot - aggressiv wie der Bulle in der Arena; denn mit beiden hatte so meine Erfahrungen - mit blutroten Flaggen und mit giftigen Basilisken - ferner mit den roten Basilisken aus der Schlangengrube, die einer besonderen Spezies angehören.

Das historische Rathaus imponierte und erinnerte daran, dass auch Freiheiten aus Traditionen erwachsen. Lieber tot als Sklaverei, hatten die Germanen einst ausgerufen, bevor sie über Varus herfielen und dann über Usurpator Arminius selbst. Und die Alemannen um mich herum, das waren wie die Cherusker Germanen!

Fürwahr, Zukunft braucht Herkunft – auch im Stadtgeschichtlichen! Nicht nur Menschen, auch Städte haben ein gesundes Selbstbewusstsein. Dieses Rathaus sprach dafür, trotz des Basilisken im Wappen!

Während ich halb neugierig, halb gelangweilt durch die Straßen des Wohlstands schlenderte wie andere brave Bürger auch, die ihren Hund ausführen, nichts Besseres im Sinn als ein winkendes Schnäppchen am Straßenrand, und mit einer Lust, dem Herrgott die Zeit zu stehlen, verrieten mir die teueren Markenuhren in den Vitrinen der Juweliere, wie unaufhörlich die Zeit verrann. Embleme der Vergänglichkeit auch sie! Trotzdem vergeudete ich etwas von der Unwiederbringlichen, indem ich mich vom Schaufenstergefunkel in allen Farben des Regenbogens ablenken ließ. Was ich im Zug schon bestaunt hatte, war wieder da in großer Auswahl, nur für größere Geldbeutel als den meinen.

Obwohl alles, was selten und teuer war, ausgebreitet vor mir lag, drängte es mich nicht wirklich, etwas von alledem besitzen zu wollen. Hatte sich nicht schon Sokrates über Dinge erhoben, die er nicht brauchte? Und noch viel radikaler als das fragende Schlitzohr dann der verwegene Diogenes von Sinope, der Selbstgenügsame im Fass? Was nützen Dinge, die der Mensch nicht wirklich zur Lebensbestreitung nötig hat, fragte später auch Seneca? Und zweitausend Jahre danach fragte ich es mich auch.

Die Kontraste waren allzu krass. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte ich noch selbst bitter erfahren müssen, wie Menschen mit einer schmalen Schnitte Graubrot ihr Überleben fristeten. Und jetzt stand ich vor der Überfülle, die nicht nur mir dekadent vorkam. Hatten nicht schon die Römer für all das so begehrenswerte Überflüssige hier vor meinen Augen einen klaren Begriff? Luxus! Was konnte man mit diesem in unzähligen Facetten funkelnden Hunderttausend-Dollar-Klunker im Ursprungsland Afrika alles anfangen? Wie viele Wellenblechhütten konnte man damit errichten, wie viele Reistöpfe füllen?

Die Kontraste waren überscharf, gerade in der Schweiz, und nur schwer zu ignorieren wie die Gedanken, die in Gewissenskonflikte mündeten. Wie konnte ich die einst idealistisch gestartete Welt des Kommunismus im Osten konsequent bekämpfen, wenn die freiheitliche Gesellschaft des Westens noch so weit von den Idealen der Humanität entfernt war? Durfte ein Dissident, ein Bürgerrechtler, Partei ergreifen für eine Seite, deren Unzulänglichkeiten nicht zu ignorieren waren? Oder musste er auch hier den Zeigefinger heben, den besserwissenden des rügenden Moralisten, und Kritik üben? Wenn ich: J’ accuse ausrief, schielte ich immer nach Osten! War das nicht einseitig?

In diesem Dilemma, das die Unruhe des In-der-Welt-Seins ausmacht, erspähte ich dann etwas, was selbst ich, der arme Studiosus aus Deutschland, sich in dieser teuren Stadt leisten konnte. Für wenig Geld war ein zierliches Kreuzchen zu haben, das an einem noch filigraneren Goldkettchen hing. Es zog mich magisch an, denn es sah jenem ähnlich, welches ich einst in den Wirren der Ausreise verloren hatte. „Dieses Kreuz musst du haben!“ sagte mir die innere Stimme. Nicht des blassen Goldes wegen, sondern aus sentimentalen Gründen, als Sinnbild, als ein neuer Glücksbringer und als verdichteter Träger von Erinnerungen, von Freuden wie von Leiden. Im Kreuz hatte sich einiges verdichtet - wie in der Rose.

Ein Freigeist, der zum Kreuz greift? Entsprach mir das Symbol wirklich? Es war ein besonderes Sinnbild, ein individuelles Kreuz. Mein Kreuz stand für Altruismus. Und es stand für meinen Weg wie ein Wegkreuz, das dem Wanderer die Richtung weist. Ein Mädchen aus Bremen hatte mir einst ein Kreuzchen in den Brief gepackt, ein schlichtes Kreuz aus Silber. Und jenes kleine Kreuz hatte mich durch die ganze Zeit der Rebellion begleitet, drei Jahre lang, bis es mir an der Gefängnispforte abgenommen worden war. Als es dann bei der Entlassung wieder auftauchte, hatte es Patina angesetzt; es war schwarz, korrodiert.

In diesem Moment der Rückbesinnung wurde mir klar, dass ich, der einstige Ketzer und Spötter, das Kreuz wieder tragen konnte wie früher, nur für mich und auch offen, ohne innere Diskrepanz zur Christenheit - wie einen Talisman, als Rückbesinnung auf Ideen, Ideale und auf Werte, die nicht in Panzerschränken verstaut werden. Das Kreuz war gerade noch erschwinglich. Also erwarb ich es, entzog mich dem Tumult und legte es an. Sogleich fühlte ich mich geborgener. Mit ihm war ich nicht mehr ganz allein - und hatte wieder Beistand, himmlischen Beistand, den Schutz der Engel und der Heiligen als immer noch Verfolgter unter der gerechten Ägide Gottes. Im Kreuz ist Heil, hatte ich irgendwo am Wegrand gelesen, an einem Flurkreuz im Feld; und - wirf deine Sorgen auf den Herrn! Das war die psychologische Existenzbewältigung der Theologie, zu der der Mensch in seiner gefühlten Endlichkeit gerne greift, wie der Humpelnde nach einer Krücke. Und auch ich war nur ein Mensch.

Basel gehört zu jenen Städten, in denen ich mich damals noch wohl fühlte. Eine freiheitliche Stadt am Strom, in welcher der Geist der Geschichte pulsierte und überall präsent war. Die phantasiereich gestalteten Basilisken vor Ort erschreckten mich nicht. An der Wettsteinbrücke sah ich eine der Figuren und später auch noch andere Gift hauchende Ungeheuer als Brunnendekoration und Wasserspeier. Der König der Schlangen war allgegenwärtig!?

Ob gar die Namensgebung der Stadt mit dem Basiliskenmythos zusammen hing? Thronte hier wirklich einmal ein Basilisk über der Stadt, ein Lindwurm einem Schwertstoß entgegenharrend wie jene einsame Pinie über dem Abgrund dem ersten Blitz? War nicht auch Friedrich Nietzsche hier gewandelt als vereinsamter Professor der alten Philologien? Und hatte nicht auch er hier über das Ausbrüten des verhängnisvollen Eies nachgedacht - und einen Vers darauf gemacht? Was doch alles mit Basilisken zusammenhing! Unangenehmes kroch hoch? Unerfreuliches aus der jüngsten Vergangenheit, das nur wenig mit Nietzsche-Studien zu tun hatte. Im fernen Temeschburg hatte ich andere Basilisken erleben müssen und anderes Schlangengezücht.

Der Weg hinab zum Rhein machte mich noch nachdenklicher. Er führte hinab durch die engen Gassen des Spätmittelalters, in denen mir manches auffiel, was ich in Deutschland nirgendwo zu Gesicht bekommen hatte: Meteoriten Mondgestein … und weitere seltene und seltsame Dinge, die ich in der prüden Republik nie vermutet hätte. Doch die Schweiz ist ein liberales Pflaster mit freien Gesetzen und mündigen Bürgern.

In dem Land, wo der wehrfähige Mann sein Sturmgewehr im Schlafzimmer verwahrt wie seine Braut, jederzeit bereit, die Freiheit des Vaterlandes zu schützen, waren auch Waffen frei käuflich wie die Liebe, fern von jeder Prüderie; von der Pistole bis zur Kalaschnikow war alles zu haben. Es soll schon vorgekommen sein, dass ein aufgeregter Schweizer, vielleicht in Rückbesinnung auf den Heros Tell, zur Flinte griff und in Richtung Parlament marschierte, um dort nicht nur auf Äpfel und Tontauben zu schießen. Anarchie auch hier? Jedes System birgt Risiken in sich - auch das Prinzip von Freiheit und Selbstverantwortung.

Das farbenfrohe Treiben in den Gassen empfand ich genauso angenehm wie den eigenen Singsang des Schweizerdeutschen durchsetzt mit alemannischen Brocken und französisch-italienischen Wortfetzen. Der besondere Duft des Marktes verwies auf südlichere Gefilde, wie seine Fliegen anderes Geschmeiß andeuteten. Nicht ist es dein Los, ein Fliegenwedel zu sein, mahnte Nietzsche vielleicht inspiriert von diesem Markt.

 
 

Ein Blick in den Strom - Melancholische Reminiszenz


 

Weiter unten stieß ich auf eine steinerne Rheinbrücke aus Sandstein. Der berühmte Blick von der Brücke drängte sich auf - ein Topos, ein Bild mit Aussicht, das Dichter und Schriftsteller lieben, besonders die melancholischen unter ihnen. Vom Misthaufen hatte ich schon hinab geblickt, von den Türmen in Paris - und jetzt stierte ich von anderer Warte aus in den völkerverbindenden Rhein: Ein vereinsamtes Boot ruderte beharrlich gegen den träge dahinfließenden Strom - und trieb doch ab. Melancholie pur! Sisyphus im Wasser? Wer ruderte schon gegen den Strom? Gegen den Staat? Gegen die Zeit?

Der vaterländische Rhein floss inzwischen gezähmt durch die Lande, nicht mehr wild und wuchtig, nicht mehr trennend und spaltend wie zu Zeiten von Nikolaus Becker, mich an Danubius erinnernd, den brüderlichen Strom gen Osten, der mich beinahe für immer aufgenommen hatte. Wie in ein romantisches Gemälde versetzt, aus dem die Wehmut einer Dichterseele hervorschimmert, schon leicht elegisch gestimmt, senkte sich mein Blick und gewahrte eine Vogelfeder vor den Füßen, eine Leichtigkeit, dem blau schimmernden Gefieder einer Taube entfallen. Bückend las ich sie auf und ließ sie gleich wieder mir dem ersten Windhauch davonfliegen. Und die Brise nahm sie mit und trug sie fort … Sinnend folgte ich dem schaukelndem Hinabtaumeln durch die Lüfte bis sie die grünbraunen Wogen berührte und mit dem ziehenden Wasser hinweg schwamm. Lange schaute ich ihr noch nach und folgte ihrem leichten Dahinschwinden, ohne die aufziehende Schwermut zu unterdrücken: Sahst du ein Glück vorübergehn, / Das nie sich wieder findet, / Ist’ s gut in einen Strom zu sehn, /Wo alles wogt und schwindet.//Hinträumend wird Vergessenheit /Des Herzens Wunde schließen;/Die Seele sieht mit ihrem Leid /Sich selbst vorüberfließen.

Wer reist, reist nicht allein. Er führt seine Welt mit sich. Seine Sorgen und seine geistigen Welten. Lenaus tiefsinnige Dichterworte mussten sich einstellen – und sie kamen archetypisch aus der Tiefe wie andere Bilder am Wegrand – wie das Kreuz und die Rose, das Feuer und die Asche. Für das wenige, was ich gewonnen, musste ich viel aufgeben. Auch ich hatte einiges verloren und sollte - wie andere Menschen auch – noch mehr verlieren.

Doch Natur und Dichtung boten Trost … Nach einer langen Weile milder Trauer fand ich wieder in die Realität zurück, erhob wieder das Antlitz und richtete den Blick wieder auf weltliche Dinge, auf die nahe Altstadt, die aus dieser Perspektive wirkte wie in den Tagen Zwinglis – nunc stans auch hier?

Imposant und unverwüstlich lag sie über mir wie ein märchenhaftes Relikt aus einer noch heilen Welt. Die Welt um mich stand still; nur im Rhein war alles im Fluss. Ohne länger zu säumen, stieg ich wieder hinauf und schlenderte weiter. Doch die Kirchen, an denen ich vorbei kam, blieben mir verschlossen wie dem Sünder das Himmelreich.

Weshalb die Protestanten ihre Gotteshäuser vor den Einkehrsuchenden verschließen, blieb mir ein Rätsel. Wenn Kirchen kein Refugium bieten, keine kühle Linderung an heißen Tagen und kein Asyl bei Verfolgung, wozu brauchen wir dann Kirchen?

Schließlich stieß ich durch Zufall unweit des Rheinufers auf einen ehrwürdigen Kreuzgang, in welchem einige vornehme Bürger der Stadt ihre ewige Ruhe gefunden hatten. Es war ein Monument - wie vieles am Rhein - aus rotem Sandstein mit hundertjährigen Grabstätten aus der Renaissancezeit, aus den Tagen der Reformation. Epitaphe, teils mit Witz und Ironie in Verse verpackt, erinnerten den Wanderer daran, dass aller Glanz und Reichtum dieser Welt vergänglich ist, auch in der Schweiz - Vanitas! Vanitatum vanitas!

Während ich im staubigen Kreuzgang verweilte, an einem Ort, vom dem ich nicht recht wusste, ob er schön war oder schrecklich, als ich innehielt und ruhte, in leiser Ahnung, ein blauer Aspergillus könne aus den finsteren Katakomben herauf schleichen und meinen Atem für immer lähmen, tödlich giftig wie der Hauch des Basilisken, merkte ich, wie ein anderer Drang aus dem Unterleib aufstieg. Ein menschliches Rühren kündigte sich an; eines, das nichts mit dem hehren Gefühl des Klassikers aus Marbach gemein hatte, sondern recht profaner Natur war. Sogleich dachte ich wieder erdbezogener und fragte mich ernsthaft, wo die nächste Urinieranstalt aufzufinden wäre und ob ich mir den Gang zum Pissoir auf diesem teuren Pflaster überhaupt noch leisten konnte. Das kleine Kreuz hatte eine Unsumme verschlungen; und jetzt sollte ich wieder Geld ausgeben für etwas, was kein sparsamer Schwabe gerne einsieht: Für Wassertrinken zahlen? Und für Wasserlassen auch noch? Also war doch nichts umsonst im Kapitalismus? Und nicht alles für Nichts, nur für die Katz … Oder für die Basilisken?

Als das Drängen schließlich stürmischer wurde und bedrohlicher, entschloss ich mich doch noch, den Regungen der Natur nachzugeben und mir wenigstens den kleinen Luxus zu leisten, bevor ich das Gleiche nach diszipliniertem Ausharren und Verkneifen im Zug umsonst haben konnte. Auch wenn es sich für einen alten Stoiker nicht ziemte, gleich schwach zu werden und loszurennen … non licet …. meinte Epiktet … den Schwächen des menschlichen Körpers nachzugeben und von Zeit zu Zeit seine Notdurft zu stillen. Epiktet hatte als vollendeter Denker der Stoa die Kontrolle seiner Blase ebenso gut im Griff wie mein anderes Vorbild, der göttliche Epikur und Gartenphilosoph, der selbst große Schmerzen zu unterdrücken wusste, ohne krampfhafte Regungen zu zeigen. Nur ich, ein aufgeklärter Mensch der Neuzeit und bürgerlicher Dekadent, sah die Dinge lockerer, suchte nach einem Fränkli, den ich in das Wohlbefinden zu investieren bereit war und bahnte mir den Weg zu jenem Örtli, wo der Mensch seinen wahren Himmel findet - und göttliche Erleichterung. Doch erzählen wollte ich diese Begebenheit niemandem. So etwas war unfein, also tabu! Nicht nur in der Schweiz. Non licet, eben! Oder?

 

Idylle – oder: Wer manchmal eine Reise tut …


 

Nach diesen wechselvollen Erlebnissen eines modernen Simplicissimus in der Basiliskenstadt am Strom, wo ich später einmal ganz andere Ungeheuer erleben sollte, begab ich mich wieder zu den etwas altmodisch anmutenden, grün gestrichenen Zügen der Schweizer Bahn und reiste dann über Bern und das welsche Freiburg weiter nach Genf.

Es wurde eine schöne Reise. Allmählich kam die Schweizer Bergwelt in Sicht. Eine aufgeschlagene Karte verdeutlichte mir, was ich in der Ferne sah. Zunächst fielen mir die gewaltigen Felsen des Aargaus auf. Ein steinreiches Land, fürwahr! Nach zahllosen Tunnelpassagen und schwarzen Löchern kündigten sich endlich die schneebedeckten Viertausender des Aarmassivs an. Die Jungfrau in Stein! Der Mönch … Die todbringende Nordwand?

Dieser Teil der Schweiz war zumindest nicht weniger reizvoll als der gerade erst passierte Breisgau nebst dem Markgräfler Land, deren nachhallende Eindrücke die gegenwärtigen Empfindungen überlagerten. Wie viel Erhabenheit erträgt ein Mensch – und wie viel Schönheit erspähen seine Augen?

Nun ging es weiter in die Alpenrepublik hinein, über hohe Eisenbrücken, an tiefblauen Flüssen vorbei. Auf historische Ortschaften schaute ich hinab, mit altem Fachwerk, mit verwittert bleichen Häusern und Schuppen aus Eichenholz, vermerkte die zahlreichen protestantischen Kirchen mit einem Gockelhahn auf dem Turm, die mir sagten, dass ich wirklich im Land von Zwingli und Calvin angekommen war. Im schnellen Vorbeisausen erspähte ich selbst einen Tempel der Mormonen, dessen grauer Turm hoch in den Himmel ragte - als Werbung für diejenigen, die nach religiösen Alternativen suchten und als weiterer Hinweis darauf, dass in einem freien Staat auch Toleranz aller Religionsfreiheit keine Fremdwörter sein dürfen. Hundert Religionen und hundert Saucen! Voltaire und Rousseau hätten bestimmt nicht protestiert!

Die Freiheit hat viele Gesichter - auch eudämonistische und lukullische!

Während Wälder und Felder an mir vorüber zogen wie auf der Leinwand im Kino, gewahrte ich arbeitende Menschen und sorglos spielende Kinder und sah, wie aus dem Homo ludens ein Homo faber wird. Jeder betrieb fromm sein Spiel. Die Kugel rollte. Der Würfel fiel. Nur manche zinkten die Karten.

Anthropologie rollte vor mir ab, nach der Welt der Anthroposophie, die ich bei Dornach gerade passiert hatte - Rudolf Steiner hatte viel über die menschliche Freiheit nachgedacht und eine Philosophie der Freiheit verfasst - menschheitsgeschichtliche Sprünge in verdichteter Form in Ären, Epochen und Äonen!

Frisch kam mir in den Sinn; und Dürrenmatt! Und dann der tiefsinnige Othmar Schoeck, ein Tonsetzer aus der großen Familie der Melancholiker, dessen Kompositionszyklen ich vor allem deshalb kannte, weil Lenau ihn durch sein gesamtes kompositorisches Leben begleitet hatte, mit Gottfried Keller und Robert Walser, vom frühen Opus bis zum letzten. Auch Schoeck stand irgendwo für die Eigenwilligkeit der Schweizer - im Denken, in der Literatur und in der Musik … Und Eigenwilligkeit war mir sympathisch, denn ohne eigenen Willen wurden keine Gesetze gebrochen, und ohne ihn gab es auch keine Andersdenkenden, keine Ketzer, keine Reformer und keine Dissidenten. Tell war der erste Rebell, zu dem ich aufblickte! Dann kamen: Rousseau, der Bürger, und Voltaire, der Wahlschweizer!

Landschaft und Natur wandelten sich. Das Heilige und das Profane lagen dicht beieinander. Was war was?

Mehr gelangweilt als interessiert, blickte ich auf gut ausgebaute Bunker, die manchem Betrachter verborgen blieben und auf olivgrün angemalte, ebenso gut kaschierte Militärfahrzeuge. Ferner sah ich romantische Bilder am Wegrand, äsende Rehe am fernen Waldsaum und weidende Milchkühe mit Rieseneutern, die mehr Milch produzierten als die Schweizer zu Käse verarbeiten konnten.

Frei herumlaufende Mastschweine entdeckte mein Auge, Borstenvieh, das ich zwar in den Niederungen der Walachei, jedoch nie in der so zivilisierten und sauberen Schweiz erwartet hätte.

Und ich sah - wie einst André Gide auf seiner Reise durch den Garten Eden - kaum Misthaufen oder Mist. Der Nasen und Augen verätzende und zum Himmel stinkende Gülledampf, der mich fast in Ohnmacht warf, war nur zu riechen, wenn ich gerade Mal aus Sehnsucht nach frischer Alpenluft die Nase aus dem Fenster steckte.

Weiße Punkte tauchten auf, mitten im satten Grün - es war Freilandgeflügel; Gänse, Enten, Truthähne, ja selbst Strauße aus Südafrika konnte ich erkennen, die in der kühlen Schweiz heimisch geworden waren. Sie steckten den Kopf in den Sand oder blickten einfach weg, wenn ihnen etwas nicht gefiel - und sie passten sich an wie Chamäleons und Basilisken, die es sicher hier auch irgendwo gab, nur gut getarnt hinter Decknamen und Deckfuntionen.

An den Berghängen weideten Ochsen und Kälber; selbst Jungstiere sah ich, Angus und Charolais - ferner viele, viele glückliche Schafe, die meditativ die Bergkräuter wiederkäuten und das Weideglück der Herde genossen, sicher weniger mit ihrem Schicksal hadernd als der Philosoph von Sils Maria und ihre biederen Besitzer. Waren die glücklichen Sklaven tatsächlich die ärgsten Feinde der Freiheit?

Auf dieser unfreiwilligen Erkundungsreise kamen auch die Gewässer nicht zu kurz: tobende, weiß aufschäumende Wildbäche, die über den Fels schwappten, um frei in die Tiefe zu stürzen; türkisfarbene, ruhig dahin fließende Flüsse wie die Aare, von kunstvoll gezimmerten Holzbrücken überspannt; friedliche, stille Seen, in deren sauerstoffreichem Eiswasser sich Fische wohl fühlten und an deren Ufer sich märchenhafte Siedlungen mit Bootshäfen dahinzogen. Das alles war die Schweiz: Ein Postkarten-Bergidyll, das an das Goldene Zeitalter der Menschheit erinnerte, an eine Welt ohne Kriege, ohne Nationalitätenkonflikte, in Sicherheit und Wohlstand - für alle.

Und - Überall Urlaub - so brachte es ein russischer Wissenschaftler auf den Punkt, als er mir das Deutschland südlich der Mainlinie beschreiben wollte. Das galt noch eindeutiger für die Schweiz, wo es überhaupt keine Probleme zu geben schien - aus dem fahrenden Zug betrachtet! Oder?

 



 

Der große Diktator


 

 

Irgendwann erreichte der Zug Biel, das die Welschen Bienne nennen. Dort war man seit Generationen damit beschäftigt, die Zeit zu messen und teure Uhren zu konstruieren. Mein ferner Bekannter Vlad Drăgoescu, ein politisch verfolgter Architekt aus Bukarest, hatte in Biel Asyl gefunden. Über Amnesty International hatten wir uns kennen gelernt, die ihn adoptiert und in der Zeit der politischen Verfolgung in Rumänien betreut hatten. Wir standen nunmehr in Briefkontakt.

Nach Biel änderten sich die Ortsschilder und vermutlich auch die Mentalität. Jetzt ging es hinein in die französischsprachige, in die welsche Schweiz. Vorerst konstatierte ich nur den sprachlichen Unterschied, nicht mehr. Vielleicht war der Zug zu schnell. Gelegentlich verließ ich den mir teuren Fensterplatz, legte Karte und Reiseführer aus der Hand und ging im Korridor des Zuges auf und ab, um möglichst viel von der mir noch unbekannten Gegend zu sehen.

Viele Jahre hatte ich depriviert, eingeschränkt und eingesperrt leben müssen. Jetzt bot sich mir die Gelegenheit, zahlreiche Eindrücke unterschiedlicher Art zumindest visuell zu erfassen. Immer noch war ich wissbegierig und interessierte mich für alles, was Erkenntnisgewinn versprach. Obwohl ich schon manches gesehen hatte, nahm ich neue Eindrücke immer noch auf, wie ein trockener Schwamm einen Wassertropfen aufnimmt, mit einer gewissen Gier und Lust zugleich. Die Befürchtung, etwas zu versäumen, war groß.

Mal nach links, Mal nach rechts blickend, genoss ich die immer pittoresker werdende Umgebung. Unweit deutete sich der Lac Gruyére an, ein Freizeitparadies, wo auch die Schweizer gerne Urlaub machen mit der märchenhaften Kleinstadt aus dem Mittelalter, umgeben von dicken Festungsmauern und Türmchen. Alphornbläsern kann man dort lauschen und einen einzigartigen Käse probieren, dessen Reservequalität zum Besten gehört, was aus Kuhmilch erzeugt werden kann. Ja, aus Greyerz stammte der Favorit unter meinen Lieblingssorten, ein Käse der Sonderklasse, den ich dem Appenzeller vorzog, obwohl letzterer mehr demokratischen Urgeist eingeatmet hatte, aber auch etwas Frauenfeindlichkeit. Ich aber liebte die Emanzipation und die frauliche Frau dahinter!

Schokolade! Käse! Und kein Mist! Doch viel Geld, das man - um des schnöden Mehrwerts willen -  streuen soll wie Mist! Das alles war die Schweiz!

Auf der rechten Seite kam jetzt Fribourg in Sicht, das schweizerische Freiburg. Als Handlungsreisender in Sachen Freiheit war mir das wiederum sympathisch. Neben den Franzosen, die für ihre Liberté auf die Barrikaden gingen und sich für Gerechtigkeit und Brüderlichkeit abschlachten ließen, verstehen auch die Schweizer etwas von Freiheit. Ihre Verfassung erinnert daran und ein Kernsatz daraus. Seit Tells Zeiten haben die Eidgenossen den hohen Wert stets gehegt, gepflegt wie ein seltenes Pflänzchen - wie ein Edelweiß - und ihn bis heute erhalten. Irgendwann kam dann endlich der lange erwarte Lac Leman ins Blickfeld, der majestätische Genfer See, umgeben von einer eindrucksvollen Landschaft mit schicken Nobelvillen und grünen Rebhängen.

Steinreiche aus aller Welt lebten hier, Leute, die sich – fern jeder Verpflichtung – nur über ihren Besitz definierten,  Fürsten, Hoheiten, gekrönte Häupter und - fern von allen - der König der Komödianten - Charlie Chaplin, ein Unverstandener, ein ewiger Idealist auch er.

In seiner Hitlerpersiflage Der große Diktator, die zu dem köstlichsten gehört, was je in jenem Genre zu dem traurigen Thema produziert wurde, ist alles antizipiert, was das Wesen eines Gewaltherrschers ausmacht - bis hinein in die Einsamkeit des Tyrannen und in die Krankheiten jener Einsamkeit. Die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus ist in dem Film unübertrefflich vorweggenommen, auf satirische und parodistische Art. Er kam in die Kinos noch bevor der Weltenbrand einsetzte. Und er hätte ihn mit verhindern helfen können, wenn er nicht als Propaganda abgetan und missverstanden worden wäre. Immer wenn ich ihn sah, berührte er mich, selbst ermüdet in tiefer Nacht - wie mich Witz und Geist eines Heine oder Nietzsche berührten. In der Diktatur, aus der ich kam, wussten nur wenige von diesem Streifen - und die allerwenigsten hatten ihn je auf der Leinwand gesehen! Weshalb wohl?

Im See spiegelte sich das Sonnenlicht. Lausanne kündigte sich an, eine andere freie Stadt am See, in deren Mauern ein kleiner, unscheinbarer Mann mit seiner Familie Zuflucht gefunden hatte - ein zarter Dichter aus Rumänien.


Auszug aus: Carl Gibson,

Symphonie der Freiheit

Widerstand gegen die Ceauşescu-Diktatur


Chronik und Testimonium einer Menschenrechtsbewegung

in autobiographischen Skizzen, Essays, Bekenntnissen und Reflexionen,

Dettelbach 2008, 418 Seiten -

Leseprobe



 

 

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